Aufhebung #14 erschienen
Lieber Leserinnen und Leser,
das Jahr 2020 beschert uns gleich drei bedeutende Jubiläen. Am 27. August jährt sich der Geburtstag Georg Wilhelm Friedrich Hegels zum 250. Mal. An Ehrerbietung und Gedenkveranstaltungen zu Ehren des schwäbischen Philosophen wird es sicher nicht mangeln, es ist aber zu bezweifeln, ob die welthistorische Bedeutung seines Denkens richtig begriffen und einem breiteren Publikum angemessen vermittelt wird. Gegen alle oberflächlichen, das Denken eher einschläfernden anstatt aufrüttelnden Dichter-und-Denker-Feierlichkeiten in Deutschland wird an die Rolle von Hegels System zu erinnern sein, „worin zum erstenmal die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d.h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen, dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den innern Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen.“
Für den, der dies schrieb (in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft), wird es dagegen seitens öffentlicher Einrichtungen wohl kaum
eine Gedenkfeier geben. Zu radikal hat der „erste Marxist“ Friedrich
Engels gemeinsam mit seinem besten Freund die Dialektik Hegels
materialistisch gewendet.
Während im universitären Betrieb gerade der Philosoph Engels weniger Beachtung findet, muss es unsere Aufgabe als Dialektiker sein, sein philosophisches Werk
nicht nur zu rezipieren, sondern auch lebendig zu halten. Der Workshop
der Gesellschaft der dialektischen Philosophie zu Engels‘ Dialektik der
Natur im Jahr
2018 war hierbei nur ein erster wichtiger Schritt, der sich mittlerweile
in einer Arbeitsgruppe Naturdialektik verstetigt hat. Am 28. November
2020 hat Engels, der
zusammen mit Marx „bedeutendste Gelehrte und Lehrer des modernen Proletariats in der ganzen zivilisierten Welt“, seinen 200. Geburtstag.
Diese kurz nach Engels‘ Tod formulierte Würdigung stammt von dem dritten großen Jubilar – von Lenin. Vor 150 Jahren wurde am nach gregorianischem Kalender 22. April der große Revolutionär und Denker geboren, mit dessen politischen Wirken der dialektische Materialismus endgültig die welthistorische Bühne betrat. Dialektisches Philosophieren kann unter den Vorzeichen dieses Jahres nur heißen, eine inhaltlich begründete Traditionslinie Hegel-Engels-Lenin herzustellen. Eine solche Linie herausgestellt und weiterentwickelt zu haben, bleibt das große Verdienst von Hans Heinz Holz. Verwiesen sei hier nur auf Weltentwurf und Reflexion, worin er ausführt, dass die Hegelsche dialektische „Formulierung des Gesamtzusammenhangs als Reflexionssystem […] dann materialistisch von Engels und Lenin pointiert“ erfasst wurde. Daher stellt die Gesellschaft für dialektische Philosophie ihre am 29. Februar stattfindende Hans-Heinz-Holz-Tagung dieses Jahr zu Recht unter das Motto „150 Jahre Lenin“, um dieser Traditionslinie und ihrer Rezeption in Holzens Denken nachzuspüren.
Das vorliegende Heft knüpft zunächst an eine vergangene Holz-Tagung an. Mit Ungesellige Geselligkeit. Staat und Recht im Übergang von Hegel zu Marx – gelesen mit Hans Heinz Holz legt Daniel Bratanovic eine überarbeitete Version seines vortrefflichen Referats auf der Holz-Tagung 2018 vor. Mit Holz
rekonstruiert er die Grundzüge der Hegelschen Rechtsphilosophie, die
„Theorie der welthistorischen Epoche der Französischen Revolution“, und
zeigt auf, wie Hegel in Abgrenzung zu den Romantikern der historischen Rechtsschule und mithilfe seiner Kritik der klassischen Metaphysik die Begriffe entwickelt, mit denen er u. a. die bürgerliche Gesellschaft begrifflich scharf erfassen konnte. Dass Hegel
hierbei jedoch die Idee des Staates versubjektivierte und damit das
Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft falsch auffasste, kann Bratanovic durch die Überleitung
zu Marxens Kritik an Hegels Rechtsphilosophie plausibel machen. Ein abschließender Verweis auf Paschukanis gibt spannende Impulse für künftige Debatten.
In dem zweiten großen Aufsatz des Heftes widmet sich Mesut Bayraktar Marx‘ Gegenstandsbegriff in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Er unternimmt den anregenden Versuch, die ontologischen Grundlinien in dem Frühwerk freizulegen, und vertritt die These, dass Marx hier implizite Ansätze einer ontologischen Grundlegung der Dialektik liefert. Die Analyse nimmt ihren Anfang bei Marxens Kritik der Hegelschen Staatsrechts von 1843 und führt dann in eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem „gegenständlichen Wesen“ in den Manuskripten. Vermittelt über eine Untersuchung der „Vergegenständlichung“ führt der Weg zu dem Begriff des Gegenstands. Die in diesem Gang freigeschälten ontologischen Grundlinien bei Marx ermöglichen, so Bayraktar, nun eine historisch-gesellschaftliche Spezifikation. Dass diese sich in der Form des Privateigentums zeigt, kann er zum Abschluss noch andeuten.
Mit drei Rezensionen konnten wir wieder aktuelle Publikationen aus der philosophischen Welt thematisieren.
Martin Küpper bespricht das bei
PapyRossa erschienene Bändchen Freiheit von Andreas Arndt und legt dar,
wie der mittlerweile emeritierte Professor in Anlehnung an Hegel und Marx einen
systematischen Freiheitsbegriff entfaltet. Das Verständnis konkreter
Freiheit ermögliche dabei die Vermeidung von Aporien eines
individuell-liberalen Freiheitsbegriffs. Probleme sieht Küpper bei Arndt u. a. in der zu starken Annäherung von Hegel und Marx
und dermangelnden Berücksichtigung praktischer und theoretischer
Fortschritte nach Marx.
Marc Püschel widmet sich Vittorio Hösles Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. Das strukturell an Kants Kritik der
reinen Vernunft angelehnte Werk versucht, die Bedingungen der Möglichkeit von intersubjektiv gültigem Verstehen zu klären. Püschel hebt die Bedeutung
des Buches für die Hermeneutik hervor, äußert jedoch Zweifel daran, dass
es für Hösles Projekt eines neuen objektiven Idealismus fruchtbar sein könne.
Um einen
der berühmtesten Hermeneutiker geht es schließlich bei Hans-Joachim
Petsche in seinen Gedanken zu Andreas Arndt: Die Reformation der Revolution. Friedrich
Schleiermacher in seiner Zeit. Arndt geht es vor allem um eine
Neubewertung der Haltung Schleiermachers zur Französischen Revolution.
Im Fokus stehen u. a. die
Auseinandersetzungen mit dem Freiheitsbegriff und der Kampf um demokratische Strukturen in Wissenschaft und Religion. Vernachlässigt wird dabei jedoch der
Blick auf Schleiermachers Verständnis von Dialektik. Erfreulicherweise
wirft Petsche in seiner ausführlichen Rezension über Arndts aktuelles
Werk hinaus erhellende Schlaglichter auf Schleiermachers Wirken und
seine „Dialektiken“.
Wir möchten schließlich unsere Leser/-innen auch in diesem Jahr dazu einladen, sich mit wissenschaftlichen Aufsätzen, Diskussionsbeiträgen oder Rezensionen an den künftigen Ausgaben der Aufhebung zu beteiligen. Willkommen sind alle Arbeiten, die sich mit der kritischen Erschließung, Entwicklung und Vertiefung sowie Anwendung und Umsetzung der dialektischen Philosophie in ihren verschiedenen Ausprägungen und ihrer Geschichte beschäftigen. Interessierte können ihre Beiträge jederzeit an die Redaktion (redaktion@dialektische-philosophie.org) senden. Vergangene Nummern der Aufhebung können unter bestellung@dialektischephilosophie.org bestellt werden.
Die Redaktion im Januar 2020