Aufhebung 2015/6/4

(c) PapyRossa-Verlag

Andreas Hüllinghorst, Berlin

Rezension: Definitiv unphilosophisch

Über Georg Fülberth: Marxismus, PapyRossa Verlag Köln 2014

Ein gegenwärtiges Beispiel für die Lebendigkeit der antihegelianischen und damit antirevolutionären Traditionslinie innerhalb des Marxismus liefert Georg Fülberth mit seiner Einführung in den Marxismus. Statt Hegels Dialektik fortzutreiben, wird dem Leser – ein Ausdruck weiteren Verfalls dieser Marxismusauffassung – ein gewöhnliches erfahrungswissenschaftliches Erforschen der kapitalistischen Wirklichkeit als Marxismus empfohlen – ohne überhaupt zu reflektieren, was das ist. Marx sei „Anatom“, also Arzt am Krankbett des Kapitalismus. Grundlage für dieses bürgerliche Vorgehen ist Fülberths Programm der Verwirklichung der Philosophie, was für ihn ein Überwinden der Königswissenschaft bedeutet. Der junge Marx habe zunächst Hegels, dann Feuerbachs philosophisches Konzept zu realisieren versucht, sei aber dabei auf das Proletariat als neues Subjekt der Gesellschaft und auf die Produktion als Grundlage derselben gestoßen. Daher sei Marx dazu übergegangen, die Ökonomie und den Klassencharakter des Kapitalismus zu untersuchen und ihn immanent zu heilen.

Das komplette Versagen eines solchen Vorgehens wird offensichtlich, wenn ihm Marxens Programm der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, von Hegel herkommend, entgegengehalten wird. Marx erkennt in Hegels System den Selbstwiderspruch der Philosophie überhaupt: Philosophie erfasst die Welt in ihrem Gesamtzusammenhang; Philosophie ist die Welt als Ganzes – in Gedanken. Zugleich ist dieses Bild von der Welt aber auch nur die menschliche Perspektive auf die Welt und also ein Weltmodell, das die Wirklichkeit kritisiert. Dieses Konstrukt soll als die wahre Welt in die Wirklichkeit gesetzt werden. Dafür muss die Philosophie wieder in die Welt hinein, die sie kritisiert hatte. Hans Heinz Holz hat diesen Widerspruch, damit man ihn überhaupt denken kann, mit seinem Widerspiegelungstheorem in eine logische Form gebracht. Das Theorem lässt ein wissenschaftliches System aufscheinen, das zum einen den Begriff des Marxismus als ein wissenschaftliches System darstellen soll und zum anderen bis zur wirklichen – und dann auch revolutionären – Tat vordringt.

Spätestens mit dem Satz „In Europa sah sich die Arbeiterbewegung einer neuen Form bürgerlicher Herrschaft gegenüber: dem Faschismus“ auf Seite 56 des Basiswissen-Büchleins „Marxismus“ von Georg Fülberth stellt sich dem Leser die Frage: Sollte eine Einführung in den Marxismus nicht auf marxistische Art und Weise vorgetragen werden? Als Leser eines solchen Textes darf man erwarten, dass man mit dem marxistischen Verstehen dessen, was Faschismus ist, nicht allein gelassen und bloß mit der Tatsache von dessen Existenz konfrontiert wird: Jetzt ist über den Marxismus der Faschismus eingebrochen, mit dem jener sich theoretisch und praktisch auseinandersetzen muss.

Schon sind wir inmitten methodischer Schwierigkeiten! Da Fülberth sich für eine historische Darstellung des Marxismus entschieden hat, müsste er auf marxistische Weise – dem Einführungscharakter entsprechend in Grundzügen – zeigen, wie der Faschismus als eine Form des Klassenkampfes aus spezifischen ökonomischen, politischen und theoretischen Bewegungsformen des Kapitalismus begriffen werden kann.1 Auf diese Weise würde die ökonomische, die politische und die theoretische Seite des Kampfes zwischen Kapital und Arbeiterklasse in dieser Phase des Kapitalismus herausgearbeitet. Und so wäre auch die theoretisch-praktische Entwicklung des Marxismus in der faschistischen Phase des Kapitalismus – und das gilt selbstverständlich auch für dessen vorhergehende und nachfolgende Existenzstufen – in ihrer historischen Bewegung in sich konsistent für den Leser nachvollziehbar.

Der Autor der Einführung verfolgt keine solche Absicht. Statt einen Begriff des Marxismus zu liefern, eröffnet er sie – wie in anderen seiner Basiswissen- Publikationen auch – mit einer „Definition“ (S. 7). Ein solches Vorgehen hat grundlegende theoretische Konsequenzen: Die Definition ist der Versuch des Verstandes, das Wesen einer Sache oder eines Begriffs zu erfassen. Sie ist nur möglich, wenn das, was unter Marxismus verstanden werden soll, wie ein Untersuchungsgegenstand genommen wird, wie ein Objekt, dem ein definierendes Subjekt gegenübersteht. Ein Marxist kann sich jedoch nicht – auch nicht in der Theorie – dem Marxismus gegenüberstellen, denn er ist Teil der marxistischen theoretisch-praktischen Bewegung. Er kann daher Marxismus nicht definieren, um dessen Wesen darzulegen. Täte er es, setzte er sich theoretisch außerhalb desselben und nähme eine nichtmarxistische Position, also den Standpunkt einer bürgerlichen Theorie ein. Ein Marxist muss sein Insein, sein Enthaltensein im Marxismus in das theoretische Erfassen dessen, was Marxismus seinem Wesen nach ist, einbeziehen. Er muss also eine andere Denkmethode als das vom Verstand durchgeführte Definieren zur Wesensbestimmung des Marxismus entwickeln.

Wie diese zu denken ist, soll im Folgenden skizziert werden, nicht ohne zuvor auf die Mängel des Definierens und dem sich daraus ergebenden Defizit in der Fülberthschen Marxismusauffassung einzugehen. Der Leser hat sich daher auf einen Methodenstreit einzulassen.2 Dieser ist nicht neu. Seit der Frühphase des wissenschaftlichen Sozialismus – seitdem Friedrich A. Lange und Eugen Dühring als Vertreter eines analytischen Materialismus gegen Marx’ und Engels’ dialektisch-materialistisches Denken auftraten – wird er geführt. Die beiden streitenden Seiten sind ihrer Grundstruktur nach immer dieselben: antihegelianisch, daher antidialektisch, und antirevolutionär, daher kapitalismusimmanent, contra hegelianisch, daher dialektisch, und revolutionär, daher kapitalismusüberwindend. Wir stecken demnach bis heute – leider – in den Kinderschuhen – zumindest was die Entwicklung einer dialektisch- materialistischen Denkmethode betrifft.

Kritik der Definition

Dem Definierenden ist das zu Definierende etwas rein Äußeres, etwas außerhalb des Verstandes Bestehendes. Er hebt dieses Äußere durch seine Sinne hindurch in sein Denken.3 Dabei, so erfasst Hegel den Vorgang des Definierens, „reduziert [der Definierende mit der Definition] diesen Reichtum der mannigfaltigen Bestimmungen [Eigenschaften] des angeschauten Daseins [Gegenstands] auf die einfachsten Momente“: „Es kommt hier zunächst darauf an, aufzufassen, was ihre [die Gegenstände mit ihren unendlich vielen Eigenschaften] nächste Gattung, und dann, was ihre spezifische Differenz [innerhalb der Gattung] ist. Es ist daher zu bestimmen, welche der vielen Eigenschaften dem Gegenstande als Gattung und welche ihm als Art zukomme, ferner welche unter diesen Eigenschaften die wesentliche sei; und zu dem Letzteren gehört, zu erkennen, in welchem Zusammenhange sie miteinander stehen […].“4

Das Ganze ist also ein Abstraktionsvorgang, indem der Gegenstand kritisiert5 wird; die Definition ist die Kritik des Verstandes an der Wirklichkeit. Das Resultat dieses Vorgehens ist ein Begriff in der Form eines Urteils:6

Beispiel 1 Marxismus ist eine revolutionäre Theorie von Marx und Engels
Beispiel 2 Marxismus ist

1. historisch- materialistische Analyse der Ökonomie und Klassenverhältnisse,
2. eine Theorie der Politik,
3. eine politische Praxis
Definition Das zu Definierende (Seiendes) Das Definierte (Begriff) ist gleich ein Gattungsbegriff mit artbildenden Unterschieden
Logik Einzelnes Identität Allgemeines als Besonderes

Definiens (Seiendes) Identität Definiendum (Verstandesurteil)
Obwohl das Beispiel 17 den formalen Kriterien einer Definition genügt, sind grundlegende Zweifel am hier formulierten Gattungsbegriff des Marxismus angebracht. Ist dieser tatsächlich nur eine „revolutionäre Theorie“, obwohl er auch eine revolutionäre Praxis ist?8 Er müsste ein die Einheit und den Gegensatz von Theorie und Praxis umfassender Terminus sein. Das Bestimmen eines Gattungsbegriffs in der Analyse der Eigenschaften eines Gegenstandes ist nicht nur im vorliegenden Fall, sondern grundsätzlich beim Definieren problematisch. Denn „[d]ie Wesentlichkeit der Eigenschaften ist für die Definition […] ihre Allgemeinheit. Diese aber ist im Dasein [in der Realität] die bloß empirische Allgemeinheit in der Zeit“.9 Die allgemeine Gültigkeit des Gattungsbegriffs liegt für den definierenden Wissenschaftler nicht im Begriff, sondern im Gegenstand. Allgemeinheit wird deshalb daran festgemacht, ob eine Eigenschaft des Gegenstandes von Dauer ist und ob andere seiner Eigenschaften vergänglich und deshalb nicht allgemein sind, also auch kein Gattungsbegriff sein können.10 Weiterhin ist diese Wahl zufällig, denn die Bestimmung des Gattungsbegriffs wird von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verschieden bestimmt. Zum Beispiel wird Zeit in der Physik anders definiert als etwa in der Psychologie oder Ökonomie.

Fülberth verwendet keine Mühe auf die Analyse eines geeigneten Gattungsbegriffs des Marxismus. Er zählt nur artbildende Unterschiede auf: Marxismus ist „1.) eine historisch-materialistische Analyse von Ökonomie und Klassenverhältnissen, 2.) eine auf diese gestützte Theorie der Politik, 3.) eine politische Praxis in der Perspektive einer Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft“ (S. 7). Damit kann ein zweites Manko im Definieren des Marxismus festgestellt werden: Warum bestimmen in Fülberths Definition genau drei artbildende Unterschiede des Gattungsbegriffs den Terminus bzw. die wirkliche Wissenschaft „Marxismus“? Warum ist keiner von ihnen überflüssig? Bzw. müssen nicht noch welche ergänzt werden? Ist nicht auch eine dialektisch-materialistische Philosophie Bestandteil desselben? Gehört vielleicht auch eine spezielle, eben marxistische Kunst zu seinen Wesensmerkmalen? Auch im Beispiel aus dem „Philosophischen Wörterbuch“ ist es möglich, die als artbildende Unterschiede abstrahierten Eigenschaften, ohne den Gattungsbegriff ändern zu müssen, nach Belieben zu ergänzen und damit dessen Inhalt zu verändern: „Marxismus ist eine revolutionäre Theorie von Marx, Engels, Lenin, Gramsci, Lukács…“ Man kann ganz nach eigenem Gusto Personen, die man im Rahmen der eigenen Definition für Marxisten hält, hinzufügen oder weglassen.11 Der Notwendigkeit ausdrückende Gattungsbegriff wird von bloß zufällig aufgezählten Eigenschaften des Marxismus bestimmt.

„Der konkrete Begriff selbst [die Definition] ist damit ein Zufälliges […] danach, welche Inhaltsbestimmungen von den mannigfaltigen Qualitäten [Eigenschaften], die der Gegenstand im äußerlichen Dasein [in der Wirklichkeit] hat, [von dem definierenden Wissenschaftler] für den Begriff ausgewählt werden und die Momente desselben ausmachen sollen.“ 12

Aus seiner Totalität von Eigenschaften sind einige als wesentliche bloß bestimmt, nicht bewiesen in die Definition aufgenommen: Es „ist kein Prinzip vorhanden, welche Seiten [Eigenschaften] des Gegenstandes als zu seiner Begriffsbestimmung [Definition] und welche nur zur äußerlichen Realität gehörig angesehen werden sollen [und deshalb zur Aufnahme in die Definition als Gattung oder artbildende Unterschiede unwesentlich sind]. Dies macht eine Schwierigkeit bei den Definitionen aus, die für dieses Erkennen [des Wesens eines Gegenstandes] nicht zu beseitigen ist“.13

Drittens nun wird auch nicht deutlich, in welchem Verhältnis die artbildenden Unterschiede zueinanderstehen, etwa in Fülberths Aufzählung der artbildenden Unterschiede des Marxismus. Zwar heißt es bei ihm, die Theorie der Politik „stützt“ (S. 7) sich auf eine historisch-materialistische Analyse; was das für ein Stützen ist, bleibt aber im Unklaren. Das Verhältnis beider Eigenschaften zur dritten, zur politischen Praxis, ist gänzlich unbestimmt. Der Gattungsbegriff – in Fülberths Definition fehlt er zwar – verfügt über keine ausreichende strukturierende Funktion für die artbildenden Unterschiede des zu Definierenden. Das Beispiel aus dem „Philosophischen Wörterbuch“ zeigt es noch deutlicher, denn der Zusammenhang von Marx und Engels liegt zwar im Gattungsbegriff – beide arbeiteten an einer revolutionären Theorie –, aber tun dies nicht zu den Lebezeiten beider Klassiker nicht auch noch Andere? Hegel konstatiert daher zu recht: Für das Verhältnis der artbildenden Unterschiede untereinander ist im definierenden Verstand „kein anderes Kriterium […] vorhanden als das Dasein [die Realität] selbst“.14 Der Definierende kann nur auf den Gegenstand zeigen und sagen „Seht, so ist es!“.

Schließlich kann viertens auch die klare Trennung zwischen Gattungsbegriff und artbildenden Unterschieden bezweifelt werden. Ihre von der formalen Logik geforderte klare Unterscheidung ist tatsächlich relativ und daher unscharf.

„Der artbildende Unterschied kann als Merkmal der Gattung und die Gattung als artbildender Unterschied aufgefaßt werden.“ Welche Eigenschaft im Definitionsverfahren was wird, hat „ein gewisses Element der Willkür“.15 Diese ist ganz auf Seiten des definierenden Wissenschaftlers; es ist seine Entscheidung, bzw. es ist die wissenschaftliche Tradition und Disziplin, aus deren bzw. dessen Warte er die Sache angeht. Auch in dieser Hinsicht kommt die Definition rein zufällig zustande.

Man kann hier in Verkehrung von Immanuel Kants Kritik an der Vernunft in seiner „Transzendentalen Analytik“ gegen die Erkenntnis durch den Verstand sagen, dass das Definieren „nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei“.16 Die ganze Konfusion wird z. B. im Logik-Buch von Georg Klaus deutlich:

„Die Elastizität und die Wandlung der Begriffe im gesellschaftlichen Fortschritt der Erkenntnis erlauben es nicht, die begrifflichen Fixpunkte, die durch Definitionen gegeben werden, als endgültige Begriffsfestlegungen zu betrachten. […] Überall, wo wir nach dem Einsatz exakter Methoden streben, müssen wir daher in der doppelten Richtung vorstoßen: einwandfreier Aufbau der Aussagen, Schlüsse und Beweise einerseits und präzise Terminologie andererseits. […] Jeder Erfolg ist hier nur ein vorübergehender. Der Erkenntnisfortschritt wird uns immer wieder Korrekturen aufzwingen […].“ 17

Was hier positiv als Bewegung der Wissenschaft verstanden wird, ist tatsächlich nichts als reiner Pluralismus der Erkenntnis. Man könnte nie wissenschaftlich bestimmen, was Marxismus bedeutet; es wäre nicht mehr auszumachen, welche Eigenschaften wesentlich sind. Alle Wissenschaftler würden sich ihre Definitionen gegenseitig um die Ohren schlagen. Kurz: Könnte Marxismus nur definiert werden, verlören wir Marxisten dessen Wesensbestimmung.

All diese Probleme mit der Definition sind von einer Grundsätzlichkeit, die mit den Worten Friedrich Engels’ deutlich machen: „Definitionen sind für die Wissenschaft wertlos, weil stets unzulänglich.“ Marxismus kann grundsätzlich nicht – außer für den „Hausgebrauch“18 – definiert werden; eine Definition reicht nicht aus, um sein Wesen mit Notwendigkeit wahr denken zu können. Hegel sieht das Manko des Definierens darin, dass der Verstand durch seine innere Verfasstheit nicht erfahren kann, was er selbst tut. Der Verstand reflektiert die Wirklichkeit und kommt zu einem Begriff in Urteilsform, der ihm dasselbe wie die Wirklichkeit ist (Identität von zu Definierendem und Definiertem). Wie zufällig die Bestimmungen von Gattungsbegriff und artbildenden Unterschieden in der Definition ein und desselben Gegenstands auch sein mögen, sie sind dem definierenden Verstand unmittelbar eins, denn:

„Der Inhalt der Definition [Gattungsbegriff und artbildende Unterschiede] ist überhaupt aus dem unmittelbaren Dasein [aus der Realität] genommen, und weil er unmittelbar ist, hat er keine Rechtfertigung; die Frage nach dessen Notwendigkeit [des Inhalts der Definition] ist durch den Ursprung [aus der Realität] beseitigt; darin, daß sie [die Definition] den Begriff als bloß Unmittelbares ausspricht, ist darauf Verzicht getan, ihn [den Begriff] selbst zu begreifen. Sie [die Definition] stellt daher nichts dar als die Formbestimmtheit des Begriffs [Einzelnes ist Allgemeines als Besonderes] an einem gegebenen Inhalt, ohne die Reflexion des Begriffes in sich selbst […].“ 19

Um über die Identität, die Wahrheit, von Realität und Urteil sprechen zu können, muss das Verhältnis von Realität und Urteil, von Sein und Bewusstsein, reflektiert werden. Der Verstand kann dies generell nicht. Mit diesem Reflexionsakt verlassen wir ihn und treten in die Vernunft, in das Reich der Philosophie ein.

Auf dem Weg zum Begreifen des Marxismus

Bei aller Kritik am Definieren – das im Zusammenhang mit dem Insein des Marxisten im Marxismus zu kritisieren ist – muss allgemein festgestellt werden: Die Tätigkeit des Verstandes ist ein für den gegenständlich tätigen Menschen notwendiges Aufheben der daseienden Gegenstände durch Definitionen in Urteilen in die abstrakte Gedankenallgemeinheit des Verstandes. Ein solches Tun ist der begreifenden Vernunft versagt; sie reflektiert – selbstverständlich auch im Rahmen der gegenständlichen Tätigkeit des Menschen – neben sich selbst lediglich das Aufheben des Verstandes und damit auch dessen Verhältnis zu den von ihm in die Allgemeinheit gehobenen Gegenständen.20

Eine derartige Reflexion vollzieht Hegel zunächst in der „Phänomenologie des Geistes“. Die Vernunft lernt dabei zu begreifen, dass die verständigen Erkenntnisformen zu einem „absoluten Wissen“, zu einem Wissen von der Welt als ganzer führen, wonach alles mit allem – auf eine in der „Phänomenologie des Geistes“ noch nicht bestimmten Weise – zusammenhängt. Im Reflektieren des Erkenntnisvorgangs entwickelt die Hegelsche Vernunft ein Denken dieser Totalität in Begriffsform.21

Was aber ist ein Begriff ? Diese Frage beantwortet Hegel in der „Wissenschaft der Logik“. Der noch einfache und daher unreflektierte Begriff des absoluten Wissens wird als Begriff begriffen (reflektiert). Hier wird sich die Denkweise der „Phänomenologie des Geistes“, also das Aufheben des daseienden Einzelnen in den Verstand bewusst gemacht. Es wird also das Denken selbst bedacht; die „Wissenschaft der Logik“ legt dar, wie Menschen die Welt denken.22 Die Vernunft entwickelt durch die Reflexion der Verstandestätigkeit eine Denkmethode. Aus dem absoluten Wissen schält sich in Hegels „Wissenschaft der Logik“ die „absolute Idee“ als das Innerste des absoluten Wissens und damit auch des verständigen Tuns des Menschen heraus. Sie ist die Denkmethode in ihrer rein logischen Form.

Die absolute Idee ist Hegel aber nicht das Resultat der Verstandestätigkeit und dessen Reflexion in der Vernunft, sondern umgekehrt das Ursprüngliche der Vernunft, des Verstandes und aller Wirklichkeit der daseienden Vielheit von Gegenständen. So erzeugt die absolute Idee die Welt und da- mit das Wesen alles Einzelnen. Diesen Vorgang stellt Hegel in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ dar: Die absolute Idee setzt gottgleich die Wesen der natürlichen, gesellschaftlichen und bewussten Existenzen aus sich heraus. Die Hegelsche Philosophie, die diesen Vorgang der Weltschaffung nachvollzieht, ist daher unmittelbar mit dem Wesen der Wirklichkeit der mannigfaltigen Seienden in der Welt identisch. Das Hegelsche System verwirklicht sich im Nachvollziehen des Setzens der absoluten Idee und kehrt dabei in die Wirklichkeit seiner Zeit zurück. So wie sich die absolute Idee am Ende all ihrer Setzungen der Wirklichkeit vollständig in die Wirklichkeit aufgelöst hat, so hat sich Hegels Begriff von der absoluten Idee im Nachvollzug der Verwirklichung der absoluten Idee im Gegenwärtigen verwirklicht.

Der Marxismus ist die kritische Reflexion dieses gesamten Vorgangs. Überblickt man Hegels System von der „Phänomenologie des Geistes“ über die „Wissenschaft der Logik“ bis zu den Schlussparagraphen der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“, ergibt sich ein kreisförmiges System, das Marx23 folgendermaßen zusammenfasst:

„Im ersten Weg [Reflexion des einzelnen Daseienden in die Allgemeinheit des Verstandes als absolutes Wissen und Reflexion dieser Reflexion als absolute Idee] wurde die volle Vorstellung [der wirklichen Gegenstände] zur abstrakten Bestimmung [zur absoluten Idee] verflüchtigt, im zweiten [Weg] führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Wege des Denkens [d. i. Setzen der Wesen der natürlichen, gesellschaftlichen und bewussten Existenzen durch die absolute Idee].“ 24

Allgemein gesagt: Auf dem ersten Weg verinnerlicht der vernünftig denkende Mensch die verständige Aufhebung des daseienden Einzelnen, er begreift philosophisch das Grundverhältnis, in dem er im verständigen Tun zur Welt steht, und entwickelt so seine Denkmethode. Auf dem zweiten Weg konstruiert er mit der Methode ein Modell der Welt und setzt es als die Wirklichkeit – die entsprechend dieses Modells verändert werden soll.

Dieser zweite Weg ist aufgrund seiner Verkehrung des Sinns der absoluten Idee bei Hegel problematisch und wird deswegen von Marx kritisiert: „Allein[,] die Praxis der Philosophie [Hegels] ist selbst theoretisch“.25 Die Verwirklichung der Philosophie, der Übergang vom Allgemeinen zurück in die Wirklichkeit der einzelnen Gegenstände vollzieht Hegel nicht wirklich, er tut es nur als denkender, nicht auch als tätiger Mensch.26 Sein dialektisches Weltmodell verwirklicht sich nur dem Schein nach, indem in ihm die absolute Idee die Wesen des natürlichen, gesellschaftlichen und bewussten Daseins materialiter setzt. Hegel bleibt im Reich der Philosophie stecken. Darum folgert der Doktorand Marx: „Allein diese unmittelbare Realisierung der Philosophie ist ihrem innersten Wesen nach mit Widersprüchen behaftet. […] So ergibt sich die Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie […] ist.“27 Hegel hat die Philosophie nicht in ihrem wirklichen Zusammenhang begriffen, nicht als aus der Welt kommend und in sie wieder zurückkehrend, sondern als Philosophie der absoluten Idee, die sowohl den ersten als auch den zweiten Weg des menschlichen Denkens bestimmt. Das auf dem zweiten Weg konstruierte Weltmodell gelangt nicht in die Besonderungen der Wirklichkeit zurück – bzw. nur dem Schein nach, wie Hans Heinz Holz, Marx nachdenkend,28 feststellt: „Die unvermittelte Übersetzung der Philosophie der Reflexion des Allgemeinen in die Lebenstätigkeit als Gestaltung des Besonderen produziert nur den Schein der Realisierung der Philosophie und reproduziert in Wirklichkeit die unaufgehobene Differenz von Theorie und Praxis.“29 Holz stellt des Weiteren den Zusammenhang, in dem sich die Philosophie befindet, aus der Perspektive des arbeitenden Menschen dar:

„[…] Nur der Mensch reflektiert [kritisiert] sein eigenes Verhältnis zur Welt [erster Weg] und gewinnt in dieser Reflexion die Fähigkeit, Zwecke zu setzen [welche in abstraktester Form die absolute Idee ist] und sich selbst zu bestimmen, also in Freiheit zu sein [Anfang des zweiten Wegs]. Zwecke setzend und damit seine Handlungen anleitend, verlässt der philosophierende Mensch aber gerade wieder die theoretische Sphäre von Erkenntnis des Wesens und Konstruktion der Idee und lässt sich erneut darauf ein, hier und jetzt besondere Zustände herzustellen [Vollendung des zweiten Wegs]; er wendet sich als tätiger dem Einzelnen zu und tut genau das [die Welt in ihre Einzelheit zu setzen], was er als Philosophierender der Kritik [Reflexion] unterzieht [nämlich das Einzelne durch den Verstand in die Allgemeinheit des Gedankens und darüber hinaus in die Vernunft zu heben usw]“.30

Man muss als Marxist den Widerspruch, den die Philosophie in sich trägt, begreifen. Der Doktorand Marx bringt ihn erstmals zwar nicht auf den Begriff, aber auf den Punkt:

„daß ihre Verwirklichung [die der Philosophie] zugleich ihr Verlust, daß, was sie nach außen bekämpft [die Wirklichkeit der Vielheit der Einzelnen], ihr eigener innerer Mangel ist [nämlich nicht im Einzelnen wirklich zu sein, sondern nur im Allgemeinen], daß gerade im Kampfe [gegen die Wirklichkeit des daseienden Einzelnen durch Verallgemeinerung] sie selbst in die Schäden [in die Wirklichkeit der Vielheit der Einzelnen] verfällt, die sie am Gegenteil [an der Wirklichkeit der Vielheit der Einzelnen] als Schäden bekämpft, und daß sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben verfällt. Was ihr entgegentritt [die Welt in ihrer Vielheit der Einzelnen] und was sie bekämpft [die Welt in ihrer Vielheit der Einzelnen], ist immer dasselbe, [nämlich] was sie ist, nur mit umgekehrten [mit allgemeinen statt konkreten] Faktoren.“ 31

Später wird er den Selbstwiderspruch der Philosophie von einer anderen Perspektive aus noch einmal denken:

„Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler [wirklicher] Bestimmungen ist, also Einheit des [wirklichen] Mannigfaltigen. Im Denken [auf dem ersten Weg wird das Mannigfaltige zu einem immer abstrakteren Begriff aufgehoben und auf dem zweiten Weg wieder immer konkreter gedacht. So] erscheint es [das Konkrete] daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es [das Konkrete] der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. […] Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden [erster Weg] und aus sich selbst sich bewegenden Denkens [zweiter Weg] zu fassen.“ Und er korrigiert Hegels Methode materialistisch: „[…] während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, [und] es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst“.32

Den Selbstwiderspruch der Philosophie sichtbar gemacht, ihn in Hegels Philosophie als nicht in seiner Gänze begriffen festgemacht zu haben, bedeutet selbstverständlich nicht, den Begriff dieses Widerspruchs und damit den Begriff der Philosophie, des Marxismus, zu haben, und schon gar nicht die Verwirklichung der Philosophie in die Welt. Beides, Selbstwiderspruch und Verwirklichung der Philosophie, ist bis hierher nur festgestellt worden und daher nicht mehr als eine Vorstellung,33 beides muss noch begriffen und in die Tat umgesetzt werden. Marx und Engels geben diesem Vorhaben den Titel „Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie“.

Bevor wir uns diesem Programm widmen, wenden wir uns Fülberths Marxismuseinführung erneut zu. Was er unter dem Stichwort „Verwirklichung der Hegelschen Philosophie“ (S. 10) schreibt, führt uns zum Grundproblem seines Marxismusverständnisses: Er versucht dieses Programm wie zuvor schon den Marxismus mit dem Verstand zu fassen: „Wenn die Philosophie nur Ausdruck einer materiellen Realität ist, dann wird die Umwälzung der Realität auch die Philosophie, die auf dieser Realität beruht, aufheben. Doch die Aufhebung [der Philosophie durch die Umwälzung der Realität] kann nur nach den Maßgaben bisheriger philosophischer Erkenntnisse erfolgen“ (S. 10 f.). Analysieren wir, was gemeint ist:

  1. Die Philosophie ist ausschließlich Ausdruck der Realität, bzw. Philosophie beruht auf ihr.

In den Worten „beruht“ und „Ausdruck“ wird das Verhältnis zwischen Realität und Philosophie angedeutet. „Beruhen auf“ kann als „die Philosophie stützt sich auf die Realität“ bzw. „gründet in derselben“ verstanden werden. Danach wäre Philosophie zwar etwas Anderes als Realität, könnte aber ohne Realität nicht sein, weil jene in dieser gründet. Das Verhältnis so aufzufassen, legt auch der Begriff „Ausdruck“ nahe: Er ist wesentlich präziser: Philosophie drückt Realität aus. Philosophie ist die Realität, ausgedrückt in (nichtrealen) Gedanken. Es ist fraglich, ob Fülberth dieser Hans Heinz Holz nahestehenden Interpretation folgt.34 Die Frage bleibt offen, was selbstredend ein Denkdefizit – und auch ein pädagogisches ist. Es wäre die Aufgabe einer Einführung in den Marxismus, den Leser hier nicht im Unklaren zu lassen und den sich vom Idealismus und vom vorhergehenden Materialismus unterscheidenden Materialismus Marxens begründend darzulegen. Fülberth stellt hingegen das materielle Verhältnis von Sein und Bewusstsein nur diffus fest, und deshalb ist nicht sicher zu sagen, was er im ersten Satz meint. Entsprechend des vage ausgedrückten Verhältnisses von Realität und Philosophie heißt es dann weiter:

  1. Die Umwälzung der Realität hebt die Philosophie auf.

Da Philosophie auf der Realität beruht bzw. ihr Ausdruck ist, ändert sich die Philosophie, wenn die Realität sich ändert. Philosophie drückt dann eine veränderte Realität aus und die bisherige Philosophie ist aufgehoben. „Aufheben“ versteht Fülberth in Fehldeutung Hegels lediglich als „überwinden“ (S. 10),35 weshalb wir von nun an von „überwinden“ sprechen, wenn Fülberth „aufheben“ schreibt. Offen bleibt, wie sich die Realität umwälzt und wie dabei Philosophie überwunden wird. Dieses Problem im Verhältnis von Realität und Philosophie geht Fülberth im Weiteren an:

  1. Die Überwindung der Philosophie durch die Umwälzung der Realität erfolgt nach Maßgabe der bisherigen Philosophie.

Philosophie überwindet sich zwar nicht selbst, sie wird in der Umwälzung der Realität überwunden. Doch die Überwindung der Philosophie erfolgt nach philosophischer Maßgabe. Philosophie entwickelt sich demnach, in der Umwälzung der Realität, nach eigenen Gesetzen, und – viel wichtiger – die Umwälzung der Realität erfolgt ebenso nach philosophischer Maßgabe. Zugespitzt können wir daraus schlussfolgern: a. Die Realität kann sich nicht selbst umwälzen. b. Die Ursache für die Realitätsumwälzung ist eine Maßgabe der Philosophie. c. Die Realität ist maßgeblich realisierte Philosophie. d. Als realisierte, umgewälzte Realität ist die maßgebende Philosophie überwunden.

Insofern steht der dritte Satz im Gegensatz zum ersten. Wahrscheinlich will Fülberth so ein Wechselverhältnis zwischen Realität und Philosophie ausdrücken: Die Überwindung der Philosophie erfolgt durch die Umwälzung der Realität, und die Umwälzung erfolgt nach Maßgabe der gegenwärtigen Philosophie. Dass Fülberth im dritten Satz ein Wechselverhältnis ausdrücken will, untermauert eine Äußerung von S. 10: „Aber die Praxis kann nicht theorielos sein, sie muss dem Weg und den Konsequenzen des bisherigen Hegelschen Denkens über Staat und Gesellschaft folgen.“ Auch auf S. 12 spricht er von einer „umwälzenden Potenz der Hegelschen, jetzt Feuerbachschen Philosophie“.

Hier wäre also der Ort, den Selbstwiderspruch der Philosophie als Teil der Verwirklichung der Philosophie deutlich zu machen. Aber Fülberth fehlt dieses Interesse. Es geht ihm gar nicht um ein solches Programm. Er hat etwas ganz Anderes vor.

  1. Die maßgebliche Philosophie ist die Feuerbachs.

  2. Dessen Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei.

  3. Feuerbachs Menschenbild will Marx revolutionär verwirklichen.

Fülberth lässt eine eigenständige marxistische Philosophie erst gar nicht zu. Die Hegelsche und recht bald schon die von Hegel geprägte Feuerbachsche Philosophie (siehe S. 12) soll, so interpretiert Fülberth Marx, verwirklicht werden. Auf diese Weise verschwindet bei Fülberth Marxens tiefe Einsicht in den Selbstwiderspruch der Philosophie und damit der Grund für das Programm der Aufhebung und Verwirklichung der Hegelschen Philosophie. Deshalb gibt es auch keine marxistische Denkmethode und keine ebensolche Theorie des Gesamtzusammenhangs (Weltmodell). Es wird ausgeblendet, dass Marxens Kritik an Hegel einer – wenn auch von Marx oder Engels nicht dezidiert aufgeschriebenen – Entwicklung einer Denkmethode und eines Weltmodells entspricht. Wenn der Marxismus über keine eigene Denkweise verfügt, kann er nur in der gegenwärtig herrschenden denken, also in den bürgerlichen Denkweisen des empirischen Wissenschaftlers, des – wie Fülberth sich ausdrückt – Anatoms.

  1. Marx verändert Feuerbachs Philosophie: Das Subjekt der Revolution ist statt der Mensch“ das Proletariat.

  2. Zur genaueren Bestimmung des Proletariats ist – mithilfe von Engels Voruntersuchungen – die bürgerliche Gesellschaft zu analysieren.

  3. Marx und Engels engagieren sich im Bund der Kommunisten

  4. Das „Kommunistische Manifest“ ist Marxens „erste Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 14).

Fülberths Programm der „Verwirklichung der Hegelschen Philosophie“ (S. 10) läuft darauf hinaus, dass es sich in dem Versuch seiner Durchführung als unnötig erweist und ad acta gelegt werden muss. Weder die Hegelsche noch die Feuerbachsche Philosophie muss verwirklicht werden. Im Marxismus hat Philosophie keine Bedeutung – einer Theorie des dialektischen Materialismus bedarf es nicht.36 Es ist daher nur konsequent, wenn in seiner Einführung nach Darstellung seiner Verwirklichung der Philosophie kein einziges Wort über marxistische Philosophie geschrieben steht und die wenigen genannten marxistischen Philosophen nicht in fachlichen Zusammenhängen auftauchen. Marxens Bemühungen um eine Verwirklichung der Philosophie enden in der geschichtsphilosophisch unterlegten Forschung der Politökonomie. Der Methode nach ist Marx nun – wie schon erwähnt – Anatom:

„Die Anatomie ist eine Hilfswissenschaft der Medizin, die sich die Heilung eines Organismus zur Aufgabe macht. Eine revolutionäre Tätigkeit ist das nicht. Und als ein Revolutionär tritt uns Marx in diesem Text [Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie MEW 13, S. 8] auch nicht entgegen, sondern eben als Anatom“ (S. 9).

Als den Kapitalismus Heilender kommt Marx von der philosophisch angelegten Revolutionsprinzip ab und beginnt, den Kapitalismus von innen zu transformieren (S. 17 und 23 f.).

Kurz: Fülberth nimmt dem Marxismus seine Eigenständigkeit. Er unterschlägt die Existenz einer marxistischen Philosophie und übernimmt die bürgerliche erfahrungswissenschaftliche Forschungsmethode als Denkweise des Marxismus. Der im philosophischen Weltmodell geschaffene Gesamtzusammenhang geht verloren, der „Marxist“ weiß nicht mehr, warum was in dieser Welt ist, wie es zu dieser gekommen ist und was aus ihr wird. Dementsprechend gibt es auch keine allgemeine Orientierung und keinen systematischen Aufbau – außer einer Zeitschiene – in Fülberths Einführung. Er führt – so hat es den Anschein – Leserin und Leser durch seine an politökonomischer Literatur gut bestückte Bibliothek. Er greift ein Buch heraus, referiert kurz darüber – und tut einen Schritt zum nächsten Band. Bei diesem Spaziergang sind ihm zwei Sachen wichtig: Marx ist kein Dialektiker,37 sondern Anatom, und er ist kein Revolutionär, sondern ein Transformator.

Der Begriff des Marxismus

In der positiven Entwicklung unseres Gedankengangs zum Begriff des Marxismus waren wir – vor der Offenlegung der Fülberthschen Deformierung – so weit gekommen, dass Marx in seiner frühen Kritik an Hegel den Selbstwiderspruch der Philosophie überhaupt sichtbar gemacht hatte: Der Mensch setzt die Welt abstrakt auseinander und reflektiert diesen Abstraktionsvorgang (erster Weg) und setzt diese Abstracta danach wieder zu einem Weltmodell zusammen (zweiter Weg) – ohne aber in die Unendlichkeit der einzelnen Daseienden zurückzugelangen. Bei Hegel, der die Welt für das Wesen seiner Philosophie hält, bleibt diese Verwirklichung theoretisch, sie wird nicht praktisch. Darum muss die Philosophie sich laut Marx so verändern, dass sie ihre Verwirklichung mitdenkt und möglich macht. Es muss ein Philosophie entwickelt werden, die nicht interpretiert, sondern verändert.

Was wird nun bei Marxens Reflexion der Hegelschen Philosophie als ganzer sichtbar? Uns bleibt nichts anderes, als Marxens Reflexion des Hegelschen Systems zu reflektieren. Das unterscheidet uns von Marx selbst. Während dieser Hegels Philosophie notwendig unmittelbar 38 reflektierte, können wir sie nur durch Marxens Reflexion vermittelt reflektieren.39 Genauer: Wir reflektieren den Übergang von der idealistischen zur materialistischen dialektischen Philosophie vom Standpunkt ihres Resultats, also des Dialektischen Materialismus.40

Reflektieren wir nachgeborenen Marxisten die theoretische Situation, die mit Marxens Reflexion des Hegelschen Systems entsteht: Indem Marx dieses System reflektiert, hat er eine Vorstellung von demselben. In dieser Vorstellung erscheint es anders, als Hegel es konstruiert hat. Es entsteht eine theoretische Situation, die Hans Heinz Holz folgendermaßen erfasst hat: „Wer also Hegel richtig verstanden hat, kann nach Hegel die Prinzipien Hegels nur in der Kritik an Hegels eigener Durchführung dieser Prinzipien verwirklichen und zugleich weiterentwickeln. Die Dialektik ist selbstreflexiv und damit auch generativ, das heißt, sich aus sich selbst fortbildend.“41 Wir erfahren hier, dass das dialektische Denken (bei Hegel) in sich selbst ein Prinzip anbietet, mit dem es über sich hinausgeht. Hegels Durchführung seiner Prinzipien zeigt an sich selbst, wie die Dialektik systematisch weiterzudenken ist. Wie das Prinzip sich zeigt ist wie es Marx erscheint. Er stellt es sich als ein System vor, das vom Kopf auf die Füße gestellt, das umgestülpt werden muss. Dies ist das Prinzip, das der dialektische Idealismus zu seiner Fortentwicklung darbietet.

Was ist mit dieser Vorstellung des Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellens zu tun? Wie stülpt man als Marxist das Hegelsche System um?42 Marx hat diese Umkehrung praktiziert und Engels hat darüber unter der Bezeichnung „Grundfrage der Philosophie“ geschrieben, aber einen Begriff davon haben sie nicht geliefert. Lenin rät: „Ich bemühe mich im allgemeinen, Hegel materialistisch zu lesen: Hegel ist auf den Kopf gestellter Materialismus (nach Engels) – d. h., ich lasse den lieben Gott, das Absolute, die reine Idee etc. größtenteils beiseite.“43 Dies ist eine spontane Lesweise, denn woher weiß Lenin, dass – „größtenteils“, also nicht immer – durch Beiseitelassen des lieben Gottes etc. Hegel materialistisch gelesen wird? Wie liest man einen auf den Kopf gestellten Materialismus materialistisch? Offensichtlich muss man sich der Lese- und damit Denkmethode zunächst bewusst werden. Lenin gibt zumindest wichtige Hinweise dafür, besonders einen:

„Bemerkenswert, daß im ganzen Kapitel über die ›absolute Idee‹ fast mit keinem Wort Gott erwähnt ist (…), und außerdem – dies NB – hat das Kapitel fast gar nicht spezifisch den Idealismus zum Inhalt, sondern sein Hauptgegenstand ist die dialektische Methode. Fazit und Resümee, das letzte Wort und der Kern der Hegelschen Logik ist die dialektische Methode – das ist äußerst bemerkenswert.“ 44

Das Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen des gesamten Hegelschen Systems hat seinen Anfang in der Umstülpung seiner Konstruktionsmethode.

Die Umstülpung des Hegelschen Systems, wie sie Marx vollzogen hat, hat, wie wir sehen, eine philosophische Seite. Die Philosophie entwickelt sich im Übergang vom dialektischen Idealismus zum dialektischen Materialismus aus sich selbst weiter – bei aller Entwicklung der Produktivkräfte, der Produktionsverhältnisse und des Klassenkampfs, die „in letzter Konsequenz“ für diese Entwicklungsstufe der Philosophie grundlegend ist.

In dieser Umstülpung wird auch eine phänomenologische Seite sichtbar: Hegels System ist – so hat es schon Feuerbach begriffen45 – von der absoluten Idee her konstruiert. Sie ist das ganze System als dessen Konstruktionsmethode. Das System vom Kopf auf die Füße zu stellen heißt also zunächst, dieses Prinzip vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die absolute Idee ist – wir erinnern uns – das begriffene absolute Wissen der „Phänomenologie des Geistes“; also der begriffene Begriff. Wir haben mit der absoluten Idee den Begriff als Begriff zu begreifen. Und weil der Begriff als solcher bei Hegel wesentlich Reflexion ist, können wir auch sagen, dass wir die Reflexion als Reflexion reflektieren. In Erinnerung daran, dass Reflektieren in seiner einfachsten Seinsform dem Vorgang des Spiegelns entspricht, hat Hans Heinz Holz die Reflexion der Reflexion als Reflexion in seinem Widerspiegelungstheorem vollzogen, in dem das Phänomen46 des Spiegelns eben diese Reflexion darstellt.47

Wir reden vom Spiegeln, wenn es ein bespiegeltes Ding und einen Spiegel gibt. Im Spiegel erscheint das Ding. So können wir sagen: Das Spiegelbild ist ein Bild des Dings. Stünde das Ding nicht vor dem Spiegel, gäbe es auch kein Spiegelbild. Der Spiegel selbst macht nichts. Diese Seite des Spiegelvorgangs entspricht dem ersten Weg des Erkennens von der Wirklichkeit der unendlich vielen Seienden zum abstrakten Begriff über Verstand und Vernunft. Genauso können wir aber auch sagen: Das Spiegelbild ist ein Bild des Spiegels. Es ist in ihm und ist von ihm gemacht. Deshalb erscheint das Spiegeln aus der Sicht des Spiegels so, als sei das Ding ein Abbild des Spiegels. Diese Seite des Spiegelns entspricht dem zweiten Weg des Erkennens, der Entwicklung eines philosophischen Weltmodells und dessen (scheinbarer) Verwirklichung. So drückt das Widerspiegelungstheorem den Selbstwiderspruch der Philosophie aus. Die Differenz zwischen ihm und der absoluten Idee ist es, dass es im Gegensatz zu ihr diesen Selbstwiderspruch denkt und darum auch anders strukturiert ist.

Diese Andersheit im Denken wird in der ontologischen Seite des Widerspiegelungstheorems deutlich: Das bespiegelte Ding ist selbstredend ein Ding; der Spiegel aber auch. Sei er z. B. Wasser, so ist dessen Oberfläche eine Spiegelfläche, in der sich der Himmel und vieles mehr spiegelt. Das Wasser ist dabei nichts anderes als Wasser; es kommt nichts hinzu, um als Wasser Spiegel zu sein. Insofern sind bespiegeltes Ding und Spiegelding materiell, sodass das Materielle die Einheit des bespiegelten Dings, des Spiegeldings und des Spiegelvorgangs bildet. Für das Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen der absoluten Idee heißt das: Die absolute Idee meint, die Wirklichkeit zu setzen; setzt sie aber nur scheinbar. Die Wirklichkeit in ihrer Einzelheit bleibt von der absoluten Idee unbeeindruckt. Vielmehr wird nun im Widerspiegelungstheorem die Wirklichkeit aktiv und setzt aus sich das heraus, was bei Hegel absolute Idee und im Widerspiegelungstheorem die Spiegelung ist. Das abstrakte Selbstbewusstsein als die absolute Idee ist nun nicht mehr die ursprüngliche Kraft des Setzens der Wirklichkeit, sondern das Selbstbewusstsein ist von der Wirklichkeit gesetzt und entspricht wirklichen (wenn auch sinnlich nicht, dafür aber gedanklich erfassbaren) Seinsformen. Die absolute Idee wandelt sich also in der dialektisch-materialistischen Philosophie zu dem, was sie wirklich ist: zum abstrakten Vernunftbegriff, zum Widerspiegelungstheorem. Darin erscheint die Setzung des Spiegels durch die Wirklichkeit aus der Sicht des Spiegels notwendigerweise als das Gegenteil der materiellen Spiegelung. Das gespiegelte Ding, in diesem abstrakten Fall die Welt, erscheint dem Spiegel als seinem Spiegelbild nicht gemäß, weshalb die Welt verändert werden muss. Die absolute Idee wird auf dieser Umstülpung in das Widerspiegelungstheorem aufgehoben.

Mit dem Dialektischen Materialismus wird erst deutlich: Der Selbstwiderspruch der Philosophie ist der spiegelverkehrte Selbstwiderspruch der Welt. Die Welt setzt ein ausnehmend besonderes Sein in sich, das Bewusstsein. Dieses, sobald es sich als Philosophie selbst bewusst ist, wird sich dieses Selbstwiderspruchs des Seins idealistisch oder materialistisch bewusst. Erst mit dem Dialektischen Materialismus kann dieser doppelte Selbstwiderspruch als solcher, ohne Ungereimtheiten, gedacht werden. Erst mit Holzens Widerspiegelungstheorem haben wir eine bewusste, also eine wissenschaftliche Methode der Umstülpung der Hegelschen Philosophie.

Indem das Widerspiegelungstheorem den Selbstwiderspruch des Seins und der Philosophie in sich fasst, indem es das Verhältnis von Sein und Bewusstsein begreift, ist es selbst widersprüchlich und drängt daher über sich hinaus – und zeigt sich als „ein – ausnehmend besonderes – Seins-Verhältnis“ 48 Die erste Kategorie die sich so ergibt, ist die des Seins. Aus ihr entwickeln sich Begriffe einfacher Seins- und damit Bewegungsformen: mechanische (wie Raum und Zeit), physikalische (z. B. Spontaneität, Attraktion und Repulsion, Körper, Grenze), chemische (etwa Atome, Moleküle), biologische (z. B. Leben, Pflanze, Tier) und schließlich gesellschaftliche (gegenständliche Tätigkeit, Produktion, Klassen, Staat, Revolution etc.). Diese Kategorien bilden gemäß des Widerspiegelungstheorems eine Einheit von Sein und Denken im Denken; zugleich sind sich auch die Einheit von philosophischem und erfahrungswissenschaftlichem Verstehen.49 Marxistische Philosophie bildet in ihrer Systematik den Gesamtzusammenhang der Welt aus und dieses Weltmodell gibt eine allgemeine Orientierung auf eine veränderbare gesellschaftliche Wirklichkeit.

Damit hört die Wissenschaft nicht auf. Indem sich das philosophische System – und mit ihm auch die Denkmethode – aus dem abstrakten Reflexionsverhältnis der Spiegelung zu solchen wie „Klassen“, „Staat“, „Revolution“ konkretisiert hat, geht der Marxismus in die politische Ökonomie über. „Die gesamte Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Gesetze bei Marx ist somit untrennbar verbunden mit seiner dialektisch-materialistischen Methode […]“, schreiben Heinz Jung und Josef Schleifstein50 – und einem marxistischen Weltmodell, möchte ich ergänzen, denn ohne die dort entwickelten Begriffe wie „Arbeit“, „Klasse“, „Staat“ und „Freiheit“ kann die politische Ökonomie ihre analytische Arbeit nicht vollbringen. In ihr wird die (letztendlich) kapitalistische Produktionsweise offengelegt, die menschlichen Beziehungen in der Produktion, bei der Verteilung und beim Verbrauch der erzeugten Güter. Der dabei konkreter herausgearbeitete Klassenwiderspruch macht die Überwindung des jeweiligen Klassenwiderspruchs in eine andere Produktionsweise notwendig.

Dieser Gedanke wird im marxistischen System der Wissenschaften vom Wissenschaftlichen Sozialismus weiter entwickelt.

„So ermöglicht die konsequente Anwendung der materialistischen Dialektik auf die Untersuchung der Gesellschaft und besonders auf die Entwicklung und den Kampf der Arbeiterklasse die Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten dieses Kampfes und die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Politik. Durch die Entdeckung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise und durch eine umfassende Analyse der ökonomischen Beziehungen und Bedingungen gewinnt die Arbeiterklasse die wissenschaftliche Einsicht in die Voraussetzungen, Aufgaben und Etappen ihres Kampfes. In diesem Sinne ist der wissenschaftliche Kommunismus die gesetzmäßige, folgerichtige Fortsetzung und Vollendung der philosophischen und ökonomischen Lehren des Marxismus, ist er ihre Anwendung auf den Klassenkampf der Arbeiterklasse und auf die Strategie und Taktik des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaftsformation.“ 51

Die kommunistische Partei52 ist dabei der Ort des wissenschaftlichen Sozialismus. Hier fallen alle marxistische Theorie und Praxis, fallen Allgemeinheit der marxistischen Theorie und Einzelheit der marxistischen Wirklichen zusammen. Realistisch wird die in der Partei betriebene Politik aber erst, wenn sie der Arbeiterklasse deren Entwicklung in Richtung Kommunismus möglich macht. Die politische Tat der Partei und schließlich die der Arbeiterklasse ist der Ort, in dem die Philosophie sich verwirklicht und das Proletariat sich aufhebt. Abstrakt: Der Selbstwiderspruch des Seins – in sich das Gegenteil seiner selbst, Bewusstsein zu setzen – setzt sich spiegelverkehrt als Selbstwiderspruch der Philosophie, der somit – ontisch und logisch – beide Selbstwidersprüche in sich zusammenfasst. Dieser spiegelverkehrte Selbstwiderspruch setzt sich wieder ins Seiende zurück, sodass dies Sein die Negation des Selbstwiderspruchs der Philosophie und die Negation der Negation des Selbstwiderspruchs des Seins ist. Die Wirklichkeit kommt also über diesen Umweg wieder in sich selbst zurück – aber nicht, als wäre nichts geschehen, sondern in einer doppelt reflektierten und damit korrigierten Wirklichkeit. Hier wird uns auch der tiefere Sinn dieser Bewegungsform deutlicher: Das Sein, also die Natur, schafft sich mit der Gesellschaft eine Seinsform, mit der sie sich schneller verändern kann als bisher, also evolutionär. Die Natur entwickelt sich durch ihre gesellschaftliche Form revolutionär. Es entstehen Seinsformen, etwa Produktivkräfte, die die Natur ohne ihre gesellschaftliche Existenzweise nicht hätte entwickeln können. In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ heißt es daher: „Erst hier ist ihm [dem Menschen] sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“

Wir machen hier die Erfahrung, dass der Prozess der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie nicht allein eine Angelegenheit unserer Klassiker war, obwohl sie grundlegend dazu beitrugen, sondern auch die des organisierten Proletariats. Beide Seiten mussten und müssen zusammenkommen, sonst wäre das Programm der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie nicht formuliert und nicht praktisch werden können. Wir folgern aus diesem Verständnis, dass dieses Vorhaben nicht mit der Formulierung des Marxismus als Theorie – wie Marx und Engels mit dem „Kommunistische Manifest“ – und der Gründung einer klassenkämpferischen Partei – wie den „Bund der Kommunisten“ – endet, sondern in ultima ratio mit dem Eintritt in die klassenlose Gesellschaft, also in den Kommunismus. Hier wird der Sinn von Marxens früheren Worten deutlich: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“53 Erst im Kommunismus hat sich das Proletariat endgültig aufgehoben und die marxistische Philosophie vollständig verwirklicht.

Nach alledem, was hier über den Begriff des Marxismus geschrieben worden ist, wird deutlich: Der Begriff des Marxismus ist ein System von Kategorien und Begriffen der Philosophie, der Politischen Ökonomie und des Wissenschaftlichen Sozialismus. Diesen ausgearbeiteten Begriff gibt es nicht. Er ist auch nicht vor dem praktischen Kampf zwischen Arbeiterklasse und Kapital zu entwickeln, da er im Klassenkampf entwickelt wird. Die Niederlage des Sozialismus 1989/1991 geht ein langjähriges Versagen des Wissenschaftlichen Sozialismus (und damit der Philosophie und Politischen Ökonomie) voraus. Zu viel im Marxismus blieb unentwickelt, zu viel nicht begriffen, sondern nur verstanden, zu viel ist vergessen.54 Dennoch ist Fülberths Einführung zu kritisieren, weil er nicht einmal auf die Idee einer Einführung in den Marxismus nach marxistischen Methode kommt. Letztendlich – und das soll hier im Rande auch deutlich werden – ist seine Einführung ein Ausdruck der gegenwärtigen Armut des Marxismus, da macht der Autor dieser Rezension keine Ausnahme.

Endnoten

1 Zumal dazu Vorbildliches von einem Marxisten vorliegt: Reinhard Opitz: „Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus“, in: Das Argument, Heft 87. Ebenso von ihm „Faschismus und Neofaschismus, Frankfurt am Main 1984.

2 Über anderes aus der hier rezensierten Einführung, z. B. über das breite politökonomische Wissen des Autors, soll hier nicht gesprochen werden.

3 Fülberth folgt diesem Ansatz und reduziert Marxens dialektische Forschungsmethode auf ein erfahrungswissenschaftliches Untersuchen von Gesellschaftsstrukturen (siehe S. 9 den Abschnitt „Anatom“). Dadurch macht er dieses Vorgehen zum Prinzip und zum (Anti-)Philosophicum. Ein solcher als Materialismus verstandener, tatsächlich aber vormarxistischer, weil undialektischer, empiristischer Ansatz ist übrigens auch in der DDR kultiviert worden; siehe etwa das Buch von Georg Klaus: Moderne Logik, Berlin (DDR) 1984: „Ausgangspunkt der menschlichen Erkenntnis sind die von der Materie ausgeübten und verursachten Reize, die im menschlichen Gehirn vermittels der Empfindungen in Bewußtseinstatsachen umgesetzt werden. Die Empfindungen sind die Grundlagen unserer Erkenntnis. Ohne Empfindungen sind wir nicht in der Lage, Gedanken zu erzeugen, Aussagen und Begriffe zu bilden“ (S. 31). „Die Gewinnung neuer Begriffe durch Abstraktion aus der Realität erfolgt stets unter Berücksichtigung der schon vorhandenen Begriffe. […]. So bauen sich neue, komplizierte Begriffe aus einfacheren, schon bekannten Begriffen auf, oder es werden umgekehrt komplizierte Begriffe auf einfache zurückgeführt“ (S. 214). Die erste Auflag dieses Buches ist 1958 unter dem Titel „Einführung in die formale Logik“ erschienen. Wir haben es hier also mit einem Buch zu tun, dass drei Jahrzehnte Philosophie in der DDR zum Ausdruck bringt.

4 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, Band 6, S. 513 und 515. – Die mir bekannten marxistischen philosophischen Publikationen zum Begriff „Definition“ verharren auf der Verstandes-, also auf der Definitionsebene und können darum die Definition gar nicht dialektisch- materialistisch reflektieren. Ich musste daher auf Hegel zurückgreifen – das ist insofern ein Verfallszeichen des Marxismus, als dass 200 Jahre altes dialektisches Wissen über das Definieren bisher nicht zum Standard marxistischer Theorie geworden ist.

5 Das Verb kommt vom griechischen „krinein“, was „scheiden“, „trennen“ bedeutet.

6 Definieren, Kritisieren und Urteilen – alle drei Verstandestätigkeiten gehen ausschließlich auf das Auseinanderdividieren der in sich zusammenhängenden Wirklichkeit und sind die Erkenntnisweisen der Erfahrungswissenschaften.

7 Es stammt aus dem „Philosophischen Wörterbuch“, herausgegeben von Georg Klaus und Manfred Buhr, Lemma „Definition“.

8 Auch wenn zuvor „Revolution“ als „praktischer Umsturz gesellschaftlicher Verhältnisse durch die bisher ausgebeutete Klasse“ definiert worden ist, ist „revolutionäre Theorie“ nur als „praktische Theorie“ zu verstehen, nicht aber – was notwendig wäre – als „theoriegeladene Praxis“.

9 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 515

10 Der Gegenstand „Blume“ z. B. ist immer eine Pflanze; sie trägt die Eigenschaft, Pflanze zu sein, stets in sich. Der Verstand kann darum formulieren: Eine Blume ist eine Pflanze (Gattungsbegriff) mit … (artbildenden Unterschieden).

11 Die artbildenden Unterschiede dürfen aber keinen Widerspruch produzieren, denn das Verstandesdenken beruht auf den drei Sätzen der formalen Logik: der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, von der Widerspruchsfreiheit und von der Identität. Zum philosophischen Fundament der formalen Logik siehe Rainer Winter: Grundlagen der formalen Logik, Frankfurt am Main 1996, Kapitel 15.

12 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, S. 513.

13 Ebd., S. 513 f.

14 Ebd., S. 515.

15 Siehe Klaus, Moderne Logik, S. 397.

16 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B VII.

17 Georg Klaus, Moderne Logik, S. 216.

18 Friedrich Engels: Materialien zum „Anti-Dühring“, in: Werke, Band 20, S. 578.

19 Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 519.

20 Durch die Vernunft wird die Tätigkeit des Menschen erst zur gegenständlichen Tätigkeit, denn in der Vernunft wird das handelnde und denkende Tun des Menschen zum Gegenstand gemacht. Ohne die vernünftige Reflexion wäre der Mensch kein Mensch und bliebe ein Naturwesen; mit Vernunft aber ist er ein gesellschaftliches Wesen.

21 Hegel dazu: „Er [der Geist als absolutes Wissen] ist an sich die Bewegung, die das Erkennen ist, – die Verwandlung jenes Ansichs in das Fürsich, der Substanz in das Subjekt, des Gegenstandes des Bewußtseins in Gegenstand des Selbstbewußtseins, d. h. in ebensosehr aufgehobenen Gegenstand oder in den Begriff “ (Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke, a.a.O., Band 3, S. 583).

22 Das ist selbstverständlich keine endgültige Bestimmung, sondern eine in der Entwicklung der Philosophie selbst, also eine historische.

23 Diese Perspektive entwickelte Marx nicht ursprünglich. Voraussetzung, um auf die Idee zu kommen, statt ein einzelnes Element des Hegelschen Systems das ganze zu kritisieren, war die Diskussion unter den Linkshegelianern, war ihr Streit mit den Rechtshegelianern und beider Kampf gegen die nichthegelsche, reaktionäre Philosophie von Schleiermacher, Schelling und Kierkegaard etc. Der Linkshegelianer Ludwig Feuerbach kam als erster auf den Gedanken, dass mit dem System als Ganzes etwas nicht stimmte. Siehe dazu genauer Hans Heinz Holz: Einheit und Widerspruch, Band III.

24 Karl Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Band 13, S. 632

25 Karl Marx: Dissertation, in: MEW, Ergänzungsband I, S. 326/328

26 Darum heißt es auch in der ersten Feuerbach-These: „Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt“ (Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW, Band 3, S. 5).

27 Karl Marx: Dissertation, a.a.O., S. 328

28 Marx in der Kritik der Hegelschen Staatsrechts“ (MEW, Band 1, S. 266): Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt.“

29 Holz, Einheit und Widerspruch, S. 244

30 Ebd.

31 Karl Marx: Dissertation, a.a.O., S. 328

32 Karl Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 632

33 In Anlehnung an Hegel soll damit ausgedrückt werden: „Vorstellungen überhaupt können als Metaphern der Gedanken und Begriffe angesehen werden. Damit aber, daß man Vorstellungen hat, kennt man noch nicht deren Bedeutung für das Denken, noch nicht deren Gedanken und Begriffe“ (G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: ders., Werke, Frankfurt/Main 1970, Band 8, S. 44).

34 Denn über Holz ist Leibniz’ dialektische Definition des Ausdrückens wieder lebendig geworden:

„Eine Sache drückt (nach meinem Sprachgebrauch) eine andere aus, wenn zwischen dem, was man von der einen, und dem, was man von der anderen aussagen kann, eine feste und regelmäßige Beziehung besteht. In diesem Sinne drückt eine perspektivische Projektion das in ihr projizierte Gebilde aus.“ – Siehe z. B. Hans Heinz Holz: Widerspiegelung, Bielefeld 2003, S. 32

35 „Aufheben“ ist eine dreifache Bewegungsform: negieren (oder überwinden), bewahren und auf eine höhere Stufe heben.

36 Diese Argumentation ähnelt der des Ökonomen Joseph Schumpeter. „Kein metaphysischer Obersatz, nur – richtige oder falsche – Tatsachenbeobachtung und Analyse hat ihn [Marx] in seiner Werkstatt beschäftigt.“ (Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, in: Grundrisse der Sozialökonomik, I. Abt., Tübingen 1914, S. 19 ff.). Oder: „nirgends hat er [Marx] die positive Wissenschaft an die Metaphysik verraten“ (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 23). Schumpeters Folgerung ist somit: Die theoretische Leistung Marxens sei unabhängig von seinem Verhältnis zur Hegelschen Dialektik entstanden. Siehe dazu die bedenkenswerten Ausführungen von Otto Morf: Das Verhältnis von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte bei Karl Marx, Basel 1951.

37 Auf S. 24 heißt es bei ihm lediglich: „Der ehemalige Hegelianer Marx bleibt Dialektiker.“ Was Dialektik sein soll, erklärt er nicht. Anscheinend unterscheidet Fülberth auch nicht zwischen Hegelscher und Marxscher Dialektik, was wieder auf eine Verwandschaft mit Schumpeter hinweist, der schrieb: „Marxens Philosophie ist nicht materialistischer als die Hegels, und seine Geschichtstheorie ist nicht materialistischer als irgendein anderer Versuch, den historischen Prozeß durch die der empirischen Wissenschaft zur Verfügung stehenden Mittel zu erklären“ (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Teil I, Bern 1946, S. 28). Morf dazu: „Schumpeter scheidet im Marxschen Werk einen soziologischen und einen ökonomischen Teil. Der erste baue auf einer allgemeinen Geschichtstheorie, die ökonomische Geschichtsauffassung, im letzteren erhalte die Detailforschung wieder das Wort“ (Otto Morf, Das Verhältnis …, a.a.O., S. 16).

38 Dass diese Reflexion vermittelt unmittelbar ist, siehe: Andreas Hüllinghorst: Hegel – Feuerbach – Marx. Die vermittelte Umkehrung, in: TOPOS 10, Bielefeld 1998.

39 Vielleicht ist Engels’ „Grundfrage der Philosophie“ in seiner späten Arbeit über Feuerbach die erste – nur abstrakte, weil nicht in der Bewegung des Denkens von Hegel zu Marx gemachten – Reflexion einer vermittelten Reflexion.

40 Hier ist der Ort des Inseins im Marxismus. Es ist ein Insein, dessen man sich bewusst werden muss. Der wissenschaftlich arbeitende Marxist kann nicht stumpf behaupten, er denke marxistisch. Es nutzt wissenschaftlich auch nichts, dass er in einer kommunistischen Partei ist und vom Klassenkampf usw. redet. Er muss sein Insein begründen. Lenin hat eine solche Begründung in seinen Hegel-Konspekten angedeutet; Holz führte sie mit dem Widerspiegelungstheorem als einziger Marxist weiter. Über seine Begründung wird unter Marxisten gestritten. Es sind aber die Holz-Kritiker gefordert, eine alternative dialektisch-materialistische Begründung des Inseins im Marxismus zu liefern.

41 Holz, Einheit und Widerspruch, 192

42 Jos Lensink gibt die Denkrichtung für eine materialistische Auflösung des Problems an:

„Während bei Hegel also di Struktur der doppelten Reflexion [die phänomenologische und die logische Reflexion bei Hegel] zur absoluten Negativität – und damit in letzter Instanz doch un(be)greifbar wird –, wird in der materialistischen Dialektik diese Struktur transparent gemacht und begründet; d. h.: zurückgeführt in den wirklichen Grund“ (Zur theoretischen Struktur der marxistischen Philosophie, in: Domenico Losurdo/Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Philosophie als Verteidigung des Ganzen der Vernunft, Köln 1988, S. 21).

43 Lenin: Konspekt zur „Wissenschaft der Logik“, in: ders., Werke, Band 38. S. 94

44 Ebd., S. 226.

45 „Das Sein, womit die ‚Logik’ [der Wissenschaft] beginnt, hat einerseits die ‚Phänomenologie’ [des Geistes], andererseits die absolute Idee zur Voraussetzung. […] Förmlich ist die absolute Idee allerdings nicht vorausgesetzt, aber dem Wesen nach. Was Hegel vorausschickt als Vermittlungsstufen und Glieder, das dachte er schon, bestimmt von der absoluten Idee. Hegel hat sich nicht entäußert, nicht die absolute Idee vergessen, sondern er denkt schon den Gegensatz, aus dem sie sich erzeugen soll, unter ihrer Voraussetzung “ (Ludwig Feuerbach: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, in: ders., Werke, Band ???, S. 35 und 39).

46 Warum Holz das Phänomen des Spiegelns und nicht den physikalischen Vorgang nimmt, dazu siehe sein Vorwort in das Buch von Joachim Schickel: Vom Logos des Spiegels, Bielefeld 2012, besonders S. 10 f.

47 Das Widerspiegelungstheorem wird aus Platzgründen nicht sonderlich ausgeführt. Holz hat es etliche Male in verschiedenen Anläufen bestimmt; am besten wohl in seinem Bändchen „Widerspiegelung“ in der „Bibliothek dialektischer Grundbegriffe“, Bielefeld 2003 – das wichtigste Kapitel daraus ist in Hans Heinz Holz: Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, Band 3, S. 220 ff., erneut veröffentlich worden.

48 Siehe Jos Lensink: Zur theoretischen Struktur der marxistischen Philosophie, a.a.O., S. 23

49 Erst mit den Kategorien wird das Erfahrungswissen relevant. Es muss deutlich festgehalten werden: Der vormarxistische Empirismus wie er häufig in der DDR gepflegt wurde, ist für einen Dialektischen Materialist komplett abzulehnen. Philosophische Kategorien sind zweiursprünglich: aus der Philosophie und aus den Erfahrungswissenschaften.

50 Heinz Jung und Josef Schleifstein: Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus und ihre Kritiker, Frankfurt am Main 1979, S. 111 f.

51 Autorenkollektiv: Wissenschaftlicher Kommunismus. Lehrbuch für das marxistisch- leninistische Grundlagenstudium, Berlin 1978, S. 9 – Es ist der Verdienst der Philosophen der DDR, diesen Systemzusammenhang gesehen zu haben. Daran ist festzuhalten.

52 Eine Arbeiterorganisation wie die kommunistische Partei ist Fülberth auch nicht geheuer; siehe S. 30 f. in seiner Einführung.

53 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Band 1, S. 391. 54 Man denke an die Arbeiten an der ersten MEGA in der Sowjetunion bis vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen in der KPdSU nach 1935. Ein Beispiel ist die neuerdings von Werner Röhr nachträglich im Argument Verlag herausgegebene Schriftensammlung des MEGA- Mitarbeiters Karl Schmückle.

Literaturverzeichnis

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik, in: ders., Werke, Frankfurt/Main 1970, Band 6

Holz, Hans Heinz: Einheit und Widerspruch, Stuttgart 1997, Band III „Die Ausarbeitung der Dialektik“; Stuttgart 1997

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1787, 2. Auflage

Klaus, Georg: Moderne Logik, Berlin (DDR) 1984