Thomas Metscher: Der Marxismus als Theorie des Gesamtzusammenhangs

Thomas Metscher, Grafenau

Der Marxismus als Theorie des Gesamtzusammenhangs

Der Marxismus im hier entwickelten Verständnis ist eine philosophisch begründete Form kohärenten begrifflichen Wissens, die auf ein perspektivisches Ganzes der Welterkenntnis zielt. Sein ultimatives Ziel freilich ist nicht die Erkenntnis, sondern die Veränderung der Welt; Veränderung zum Zweck der Errichtung einer menschenwürdigen Gesellschaft. ‚Philosophisch begründet‘ ist dieses Denken, weil es seine Voraussetzungen reflektiert, weil es methodisch verfährt, weil seine Argumente ‚aus Gründen‘ erfolgen. Die Gründe dieses Denkens sind empirisch überprüfte und überprüfbare Prinzipien. Weltanschauung ist der Marxismus, insofern er eine Sicht auf Welt entwirft, die diese in Bezug auf den Menschen im ganzen erfaßt – als Theorie des Gesamtzusammenhangs.

Diese Sicht des Marxismus schließt an das Denken von Hans Heinz Holz an, der wie kein Zweiter seiner Generation den Begriff des Marxismus als philosophische Theorie des Gesamtzusammenhangs ausgearbeitet hat. „Die Konstruktion des Gesamtzusammenhangs“ ist ihm „das eigentliche Feld der theoretischen Philosophie, ohne den sie ihre anderen Leistungen nicht begründen, nicht in einer ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ fundieren könnte“.

Der folgende Beitrag enthält neben der Klärung dieses Sachverhalts den Versuch einer kategorialen Konkretion. Diese ist notwendig, weil der Begriff des Gesamtzusammenhangs im Holzschen Denken, seiner Schlüsselstellung ungeachtet, auf der Ebene einer hohen Abstraktion verbleibt, seine Bestimmung in ihm also keineswegs erschöpft ist. Mein Vorschlag lautet, zwischen fünf kategorialen Ebenen des Gesamtzusammenhangs zu unterscheiden: 1. Alltag, 2. Gesellschaft/gesellschaftliche Formation, 3. Geschichte, 4. menschliche Welt und Natur, 5. Wirklichkeit als das ‚Seiende im Ganzen‘. Ihnen zugeordnet sind erweiternde Überlegungen zur Genesis elementaren Weltwissens, zur Dreidimensionalität der geschichtlichen Wirklichkeit, zum Begriff der Kultur und zum Verhältnis von Marxismus und Religion.

Der Beitrag bewegt sich im Erbe der Holzschen Denkens. Er versteht sich nicht als dessen Kritik, sondern als dessen Weiterentwicklung.

I. Der Marxismus als Weltanschauung und der Begriff des Gesamtzusammenhangs

1. Der Marxismus als philosophische Weltanschauung: ‚Philosophie der Praxis‘

Die Frage, die ich stelle und von der ich ausgehe, ist auf den ersten Blick eine sehr einfache Frage: Was ist eigentlich der Marxismus? Sehen wir uns die Antworten an, die gewöhnlich gegeben werden – auch von Marxisten –, so zeigt sich, dass die Frage nicht so einfach ist, wie sie zu sein scheint. Der Marxismus, sagen die einen, ist eine Ideologie – und das ist dann, je nach Standpunkt des Sprechenden, mal positiv, mal negativ gemeint; negativ im Sinne der handelsüblichen Marxismuskritik, die den Marxismus als vorgefasste Meinung und Produkt von Ideologen denunziert, die die Welt nach ihren Vorstellungen modeln wollen; positiv im Sinne des Begriffs einer ‚wissenschaftlichen Ideologie‘, der auf Lenin zurückgeht und auch staatsoffiziell in den sozialistischen Ländern gebräuchlich war. Der Marxismus, sagen die anderen, ist eine kritische Theorie der Gesellschaft, der eine bestimmte Methodik und ein bestimmter Wissenskorpus entsprechen, die in ihrem Zusammenhang einen besonderen praxisorientierten Theorietypus konstituieren; eine Theorie also eines Teilbereichs menschlichen Seins und Wissens. Nicht aber ist sie eine Theorie des ‚Ganzen‘ von menschlicher Welt und Natur, somit im strengen Sinn auch keine ‚Weltanschauung‘, die ihrem Begriff nach auf das Ganze des Wirklichen zielt, was sie nach Meinung der kritischen Theoretiker ideologisch verdächtig macht.1 Dass aber der Marxismus eine Weltanschauung sei, und zwar eine wissenschaftliche und philosophisch begründete – eine ‚Philosophie der Praxis‘, mit Gramscis Begriff –, ist die Auffassung, die für große Teile des Marxismus verbindlich war und ist; auch dort, wo das Wort ‚Weltanschauung‘ als sprachlicher Ausdruck nicht Verwendung findet. Es ist erkennbar im marxschen Denken angelegt, ich erinnere an die Feuerbach-Thesen, die reichhaltigen philosophischen Entwürfe der Pariser Manuskripte, die in den Grundrissen und im Kapital ihre Spuren hinterlassen haben, an Engels’ Anti-Dühring und Dialektik der Natur, an Lenins philosophische Konspekte, an Gramsci, Lukács, Bloch, Kofler; viele andere mehr wären zu nennen, unter den Neueren vor allem Hans Heinz Holz. Die folgenden Überlegungen schließen sich dieser Auffassung an. Sie versuchen, sie in einem bestimmten kategorialen Aspekt zu spezifizieren und zu erweitern.

Wir müssen freilich terminologisch sorgfältig differenzieren. Das Wort ‚Weltanschauung‘ ist begriffsgeschichtlich idealistischer Herkunft.2 Es findet sich bei Schleiermacher, und es spielt im Denken Diltheys eine zentrale Rolle. Hier bezeichnet Weltanschauung „die Gesamtsicht von der Welt und der Stellung des Menschen in ihr, dargestellt in einem philosophischen System“.3 Im Kontext des spätbürgerlichen Irrationalismus avanciert ‚Weltanschauung‘ zu einem Kernbegriff deutscher Ideologie. Das Wort verkommt schließlich zu einem Allerweltsbegriff einer ideologisierten Jedermannsphilosophie. In der Nebelwelt bürgerlichen Alltagsbewusstseins wird es bis zur Sinnentleerung verhunzt. Es sollte, wenn materialistisch gebraucht, mit Vorsicht behandelt werden. Weltanschauung als Begriff bedarf daher einer genauen kategorialen Explikation, die seinen Sinn im Gegenzug zum Un-Sinn seines Missbrauchs entwickelt. In meinem Buch Logos und Wirklichkeit, das u. a. dies zu tun versucht, spreche ich vom „Weltbild als einer epistemischen Universalie“ und von der Trias ‚Weltbild, Weltanschauung, Weltbegriff‘. Was damit gemeint ist, sei in einem Exkurs erläutert.

Exkurs I. Zur Trias Weltbild, Weltanschauung, Weltbegriff

Weltbild, Weltanschauung, Weltbegriff sind Kategorien hoher Komplexität. Es sind synthetische Begriffe. In ihnen ist der epistemische Kernkomplex sedimentiert: der dialektische Zusammenhang von Erkennen, Wissen und Verstehen in Akten und Formen der geistigen Aneignung und epistemischen Erschließung von Welt.

In Logos und Wirklichkeit spreche ich von einem elementaren Logos als der basalen Stufe evolutionär entstandenen menschlich-gesellschaftlichen Bewusstseins. Der epistemische Logos ist Keimzelle einer Pluralität von Rationalitätsformen und Wissensgestalten – des logischen Universums historischer Vernunft. In ihm hat begriffliches Denken ebenso seinen Grund wie symbolisches, Wissen ebenso wie Verstehen und Deutung. Dieser elementare Logos ist konstitutiver Bestandteil des Ensembles menschlicher Produktivkräfte: tätiges Vermögen, das in der gegenständlichen Praxis des Menschen seinen geschichtlichen Ort hat. Er ist erkennendes und über Erkenntnis Wissen produzierendes Bewusstsein, der Grund der Formen der Rationalität und des Universums des Wissens. In dieser Eigenschaft ist er, näher bestimmt, epistemischer Logos. Seine Grundformen sind Symbol und Begriff – symbolisches und begriffliches Denken. Zum symbolischen Denken gehören Mythos, Kunst, Religion, zum begrifflichen Denken Wissenschaft und Philosophie. Rationalität tritt in einer Vielfalt von Formen auf, die historisch und kulturell determiniert und als differente in dieser Determination zu beschreiben sind. Analog bildet sich Wissen zu einem vielgestaltigen Universum aus. Zu diesem gehören Wissen des Alltags, mythisches, religiöses, ästhetisches, begriffliches Wissen, an privilegierter Stelle auch die Sprache. Für den hier gebrauchten Wissensbegriff setze ich den Terminus Episteme.4 Ihm zugeordnet sind als weitere Kategorien von fundamentaler epistemologischer Bedeutung Verstehen, Interpretation und Deutung (von Welt). Sie bilden Stufen zunehmender Organik und Systematik. Weltdeutungen kristallisieren sich in Weltbildern und (mythischen, religiösen, ästhetischen und theoretischen) Weltanschauungen. Verstehen, Interpretation und Deutung stehen in einem notwendigen, je spezifischen Verhältnis zum Wissen. Sie sind in ihrer jeweiligen Gestalt abhängig von einem historisch-gegebenen Stand des Wissens. Sie kooperieren mit dem Wissen in der epistemischen Erschließung (‚Aneignung‘) von Welt.5

Weltbild, Weltanschauung, Weltbegriff benennen geschichtlich-ontologische Stufen der epistemischen Weltaneignung. Bezeichnet Weltbild die erste und allgemeinste Stufe (Weltbilder, wie rudimentär auch immer, sind in allen Formen des Bewusstseins und Wissens zu finden), so Weltanschauung einen Weltbildmodus intentional systemischen Charakters (Bild eines Welt-Zusammenhangs), der in allen entwickelten Formen objektiven Bewusstseins vorkommt. Von einem Weltbegriff ist zu reden, wenn dieser Zusammenhang theoretisch-begrifflich, also wissenschaftlich/philosophisch gefasst wird.

Das Weltbild ist epistemische Universalie. In ihm objektiviert sich der epistemische Logos auf allen Stufen menschlichen Bewusstseins. So finden sich Weltbilder bereits auf der Ebene alltagspraktischen Bewusstseins; jede und jeder hat ein bestimmtes Bild von der Welt. Von Weltanschauung dagegen ist erst auf systemisch elaborierter Ebene, mit Blick auf Mythologie, Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft zu sprechen. Weltbegriff meint die theoretisch artikulierte Form von Weltanschauung. Ästhetische Weltanschauung bezeichnet die Weltanschauung in den Künsten.

Weltanschauung ist ein Modus des Weltbilds, der nicht den gleichen universalen Rang wie dieses hat. Unter Weltanschauung verstehe ich systemisch elaborierte Weltbilder: Weltbilder von intern zusammenhängender Struktur, die auf ein Ganzes von Welt zielen, also einen bestimmten Umfang und eine bestimmte Qualität besitzen (so Weltbilder in Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie). Weltbegriff meint explizit begrifflich artikulierte Weltanschauungen (Weltanschauung in Wissenschaft und Philosophie).

Weltanschauung ist ein Weltbild von einiger Extension und Geschlossenheit. Es zielt auf Totalität und Zusammenhang einer angeschauten Welt. Es kann unterschiedliche Komplexitätsgrade besitzen (der Komplexität der Welt bzw. des Weltgegenstands entsprechend, die es erfasst). Es bildet nicht ab, sondern es stellt dar. Es zeigt Welt in perspektivischer Brechung. Es ist Resultat von Vermittlungen: perspektivische Konstruktion.

Weltbilder gibt es in Sprache, Alltagsbewusstsein, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie. Weltbild und Weltanschauung stehen in einem je spezifischen Verhältnis zum Wissen ihrer Zeit. Sie sind in ihren jeweiligen Gestalten von dem gegebenen historischen Stand des Wissens abhängig. In ihnen sind Wissen und Verstehen in vergegenständlichter Form synthetisiert. Mit diesen gründen sie anthropologisch-genetisch im elementaren Logos. Sie sind Bestandteile der epistemischen Erschließung von Welt: Formen, in denen sich diese Erschließung objektiviert. Der gesamte Vorgang ist Teil des für eine materialistische Ontologie zentralen Aneignungsbegriffs.6

Exkurs II. Zum Begriff der ‚wissenschaftlichen Ideologie‘

Kurz begründen möchte ich, warum ich den Begriff der ‚wissenschaftlichen Ideologie‘ zur Charakterisierung des Marxismus nicht verwende. Der Begriff hat im marxistischen Denken durchaus eine respektable Tradition. Er geht auf Lenin zurück, und auch der späte Lukács versteht unter Ideologie „jene Form der gedanklichen Bearbeitung der Wirklichkeit, die dazu dient, die gesellschaftliche Praxis der Menschen bewusst und aktionsfähig zu machen“;7 eine Definition, die den marxistischen Theorietypus sehr exakt beschreibt. Aus folgenden Gründen werde ich sie dennoch nicht übernehmen.

  1. So halte ich aus theoretisch-argumentativen wie politischen Gründen den kritischen Begriff von Ideologie, wie ihn die Deutsche Ideologie exponiert, für unverzichtbar.8 Ideologie ist dort ver-kehrtes, d. h. auf dem Kopf stehendes Bewusstsein (Marx und Engels sprechen metaphorisch von der camera obscura des Bewusstseins), dessen Wahrheitsgehalte erst durch eine Um-Kehrung des Bewusstseins gewonnen werden können. Ideologie ist in jedem Fall Begriff einer Beschränkung, Einschränkung, Deformation menschlicher Erkenntnis und menschlichen Bewusstseins, demgegenüber der Begriff eines ideologiefreien Bewusstseins zu entwickeln ist. Zwar ist der Marxismus nicht per se ‚nichtideologisch‘,9 er kann es aber sein, wenn er und insofern er bestimmte Bedingungen erfüllt: die Motive, die Voraussetzungen und Grenzen seiner Erkenntnis sowie ihren historisch-politischen Kontext kritisch reflektiert, sich in diesem Sinn als kritische Wissenschaft konstituiert. Der Marxismus ist dies seinem Begriff nach, ja er ist es bereits in seinen methodologischen Prinzipien. Er wurde von seinen Gründervätern als kritische und dialektische Wissenschaft ausgearbeitet (wobei die Kritik notwendiges Moment des Dialektischen ist). Er trat in seiner Geschichte aber sehr häufig (so in seinen staatsoffiziellen Gestalten) in dogmatisch institutionalisierter Form auf – als Form eines quasiabsoluten Wissens, ja in religionsförmiger Gestalt. In solchen Formen aber geht der dialektisch-kritische Charakter des Marxismus verloren. Er wird selbst zur Ideologie. Genau diese Differenz – zwischen kritischer Wissenschaft und Ideologie – gilt es begrifflich festzuhalten, was unmöglich ist, wenn man den Marxismus im ‚positiven‘ Sinn als eine Ideologie versteht.

  2. In einem noch weiteren Sinn ist an der Differenz zwischen Wissenschaft und Ideologie festzuhalten. Wissenschaft, auch in ihrer ‚bürgerlichen‘ Form, ist nicht per se ‚ideologisch‘, sie wird es erst in Kontexten von Herrschaft und Eigentum, in Kontexten sozialer Praxis generell. Die Relativitätstheorie ist so wenig ideologisch wie es Marx’ Kapital ist. Wie dieses kann sie wahr, falsch oder teilweise wahr und teilweise falsch sein. Ideologisch werden Theorien im Zusammenhängen ideologischer Verhältnisse; so in institutionalisierten Formen, die wissenschaftliches Arbeiten oft ideologisch präformieren, auch in bestimmten Anwendungsformen, durch verzerrende Verallgemeinerung oder falsche Interpretation; wir erleben dies zur Zeit in publizistischer Eindringlichkeit am Beispiel der Gehirnforschung und den Wegen ihres philosophischen Gebrauchs.

  3. Ein Drittes kommt hinzu. Weltanschauungen gehen, wie ich zeigte, auf das Ganze menschlich-gesellschaftlicher und natürlicher Welt – das Ganze von Wirklichkeit – wie auf das Bewusstsein dieses Ganzen, den Begriff von ihm, damit auch auf das Ganze des Wissens von Wirklichkeit. Für dieses ‚Ganze‘ den Begriff ‚Ideologie‘ zu benutzen, würde ihn in einer Weise universalisieren, die seine Trennschärfe, ja seine analytisch-kritischen Potentiale nivelliert. In der ideologischen Nacht sind alle Katzen grau. Wir finden uns wieder mit dem nichtssagend-allgemeinen Ideologiebegriff bestimmter Linien der bürgerlichen Soziologie. Nichts wäre gewonnen, viel verloren.

Eine Weltanschauung entwirft diesem Konzept zufolge eine Sicht auf Welt – eine wissenschaftliche Weltanschauung einen Begriff von Welt –, die diese in geschichtlichem Bezug auf den Menschen im ganzen, also als Zusammenhang erfasst. Weltanschauung ist die Konstruktion eines Gesamtzusammenhangs.10 Dies zu erläutern, bildet den Kern der hier vorgetragenen Überlegungen. Ihre erkenntnisleitende These lautet: allein als Theorie des GZ ist der Marxismus als Weltanschauung – als kohärente Theorie der wirklichen Welt – zu entwerfen. Nur in solcher Gestalt kann der Marxismus seine historische Rolle als praxisorientierte und weltverändernde Theorie erfüllen.

Der Marxismus ist in seinem konzeptionellen Kern somit als eine philosophisch begründete Form kohärenten begrifflichen Wissens zu bestimmen, die auf ein perspektivisches Ganzes der Welterkenntnis zielt – das Ganze einer Welt, in Gedanken gefasst. Sein ultimatives Ziel freilich ist nicht die Erkenntnis, sondern die Veränderung der Welt – ‚das Ganze einer Welt, in Gedanken gefasst, um das Ganze einer Welt zu verändern‘ ; Veränderung nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Zweck der Errichtung einer friedensbereiten, von Gewalt und Angst befreiten, Hunger und Not geheilten Welt. Sie kann, im marxistischen Verständnis, allein in Form einer sozialistisch-kommunistischen gesellschaftlichen Ordnung Realität haben. ‚Philosophisch begründet‘ ist dieses Denken, weil es seine Voraussetzungen reflektiert, weil es methodisch verfährt, weil seine Argumente ‚aus Gründen‘ erfolgen, weil es auf ein Ganzes der Erkenntnis zielt. ‚Philosophisch begründet‘ heißt weiter, dass die Gründe dieses Denkens keine dezisionistischen Setzungen oder ideologischen Glaubenssätze sind, sondern empirisch überprüfte und überprüfbare Prinzipien,11 die als axiomatische Voraussetzungen im Sinne einsichtiger ‚erster Prinzipien‘ Geltung haben.

‚Philosophisch begründete wissenschaftliche Weltanschauung‘ schließt ein, dass diese Weltanschauung ihre Voraussetzungen wie Folgerungen, ihre Ziele und Grenzen kritisch reflektiert. Nur auf diese Weise konstituiert sich der Marxismus als dialektisch-kritische Theorie. Der Begriff des GZ gehört ihr organisch zu.

Zum Begriff der wissenschaftlichen Weltanschauung gehört logisch zwingend das erkenntnistheoretische Relativitätsprinzip. Diesem zufolge „sind die Grenzen der Annäherung unserer Kenntnisse an die objektive, absolute Wahrheit geschichtlich bedingt“.12 Die ‚absolute Wahrheit‘ (d. i. die vollständige und adäquate Widerspiegelung der Realität im menschlichen Bewusstsein, im Einzelnen wie im Ganzen) existiert allein als Ideal (bzw. ‚regulative Idee‘) menschlicher Erkenntnis. Jede gegebene Wahrheit ist geschichtlich bedingt, deshalb relativ: perspektivisch bezogen auf den Standort, von dem aus ihre Formulierung erfolgt. Zwar gibt es einen Prozess fortschreitender Erkenntnis – der Zunahme menschlichen Wissens –, doch ist dieser unendlich und unabschließbar, weil gebunden an den historischen Prozess. Jede gegebene Erkenntnis ist endlich und begrenzt, da sie selbst Teil dieses Prozesses ist und so nur einen perspektivischen Aspekt desselben zu reflektieren vermag. Sie ist zudem bedroht durch stets möglichen Erkenntnisverlust. Ein gewonnenes Wissen kann verdrängt, unterdrückt, vergessen werden. Das bedeutet: der Gesamtprozess ist uns nie in seinem absoluten An-sich-Sein, sondern nur in seinem Für-uns-Sein zugänglich. Daraus folgt nicht, dass das An-sich-Sein der Wirklichkeit (das berühmte ‚Ding an sich‘) unserem Wissen und Bewusstsein prinzipiell entzogen wäre (das wäre die kantianische Schlussfolgerung), sondern allein, dass das Ding an sich nur in Teilen und in perspektivischer Brechung doch nicht im Ganzen erkannt werden kann. Wie groß diese Teile sind, hängt vom Gesamt des Wissens ab, über das die Menschen zu einem historischen Zeitpunkt verfügen.

Aus dem erkenntnistheoretischen Relativitätsprinzip sind Folgerungen zu ziehen. Die permanente kritische Reflexion ist zum methodologischen Grundprinzip marxistischen Denkens zu machen. Dazu gehören Prüfung des Erreichten, Revision (im Sinne des Neu-Betrachtens, Wieder-Ansehens) und Fortentwicklung auf der Basis des Geprüften. Es sind dies unverzichtbare Bedingungen, die an den Marxismus zu stellen sind. Unverzichtbar, nicht zuletzt auch aufgrund der Erfahrungen seiner eigenen Geschichte, ist die immer wieder zu erneuernde rigorose Selbstbefragung, die Überprüfung seiner Voraussetzungen wie seiner Ergebnisse. Sein methodologisches Prinzip der Erkenntnisgewinnung lautet: ‚Wissen, gewonnen aus Zweifel‘ (Brecht). Die für jede Wissenschaft gebotene Hypothese möglichen Irrtums (dass ich in meinen wissenschaftlichen Aussagen auch irren kann) hat sich der Marxismus als methodologisches Postulat zu eigen zu machen.

Dem Komplex des hier Entworfenen soll im Versuch einer Vertiefung und Konkretisierung mit einigen Denkschritten nachgegangen werden. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff des GZ – als Kernkategorie des für den Marxismus reklamierten Weltanschauungsbegriffs. Konstitutiv für den besonderen Weltanschauungstypus, den der Marxismus repräsentiert, ist das Prinzip der Einheit von Theorie und Praxis. Es wird gleichfalls Erörterung finden.

2. Die Einheit von Theorie und Praxis und das Denken des Gesamtzusammenhangs

Im Versuch einer solchen Vertiefung und Konkretisierung komme ich auf das Denken von Holz zurück. Denn von den marxistischen Philosophen der Gegenwart hat kein zweiter den philosophischen Begriff des Marxismus, wie er hier erörtert wird, mit der gleichen Intensität durchdacht. Ich werde also an die Gedanken von Holz anknüpfen. Ich folge dabei nicht in jedem Punkt den von ihm vorgegebenen Denkschritten, sondern führe in Teilen den Gedanken weiter, gehe in anderen einen eigenen Weg. Ein solches Vorgehen gehört zum Charakter dialogischen Denkens. Der produktive Anreiz großer Philosophie besteht nicht zuletzt im Weiterdenken des Gedachten. Einen Philosophen ehrt man am besten durch die Erklärung und Erweiterung seiner Gedanken.

Ich werde des Näheren die zwei Gesichtspunkte ausarbeiten, die ich für den Begriff einer philosophischen Weltanschauung im marxistischen Sinn für zentral halte: Es ist erstens das Prinzip der Einheit von Theorie und Praxis. Es ist zweitens jener Begriff, der für Holz selbst die Kernkategorie seines systematischen Philosophierens war: das Denken der Welt als ganzer – das ‚Denken des GZ‘. Der Schwerpunkt liegt auf dem zweiten Gesichtspunkt.13

Er bildet das eigentliche Problemfeld der hier vorgetragenen Erörterungen. Das Prinzip der Einheit von Theorie und Praxis findet Erörterung, weil es die Bedingung ist, in einem politischen wie logischen Sinn, die Kategorie des GZ und mit ihr den Weltanschauungstyp des Marxismus in seiner besonderen Form zu bestimmen. So steht dieses Prinzip im Kern der materialistischen Umkehrung des seiner Herkunft nach idealistischen Weltanschauungsbegriffs.

Bei meinen Überlegungen handelt es sich um einen Denk-Versuch. Sie verstehen sich dialogisch: als Teil eines Gesprächs, das ich, wenn ich es auch nicht mehr mit der Person führen kann, so doch mit ihren weiterlebenden Gedanken führen möchte.

Meinen Ausgangspunkt bilden zwei Zitate. Zur Einheit von Theorie und Praxis: „Aber der Sinn der Philosophie liegt darin, daß sie verbindliche Ziele unseres Handelns setzen und begründen kann, daß sie Orientierung in der Welt ermöglicht und Regeln der Lebensführung aufstellt. In diesem Sinn ist jede Philosophie zugleich praktische – und es kann keine praktische Philosophie geben, die nicht theoretisch ist.“14

Zum Denken der Welt als ganzer: der Begriff des Gesamtzusammenhangs: „Der Marxismus ist eine Philosophie, die sich nicht bloß mit diesem oder jenem Aspekt der Welt befaßt (. . .); er will eine Auffassung der Welt als ganzer, Natur und Gesellschaft, in ihrer Entwicklung geben und diese Auffassung von den Einsichten der Wissenschaften her und aus ihrer Interpretation zu einem Gesamtzusammenhang gewinnen.“ 15

A. Die Einheit von Theorie und Praxis

Der Satz, dass jede theoretische Philosophie zugleich praktisch ist und es keine praktische Philosophie geben kann, die nicht theoretisch ist, gilt gerade für seine Philosophie und macht sie zu einer Besonderen. Der Satz hat es in sich. Er legt ein Bekenntnis ab und stellt eine Norm auf. Will er doch sagen: Jede Philosophie von Rang, jede Philosophie, die zählt, die heute an der Front der Zeit steht (wie sein Lehrer Bloch sagte), ist zugleich praktisch und theoretisch. Er bestimmt damit den Kern des nach Marx – mit der von ihm vollzogenen Transformation (‚Umstülpung‘) traditionellen Denkens – möglich gewordenen neuen Theorietyps Philosophie. In ihm ist Praxis – der Bezug zum Handeln – als konstituierendes Moment des theoretischen Gedankens gesetzt: nicht als bloßes Addendum, das der Theorie anzuhängen ist, sondern als wesentliche und logisch notwendige Dimension der Theoretischen selbst. In der Geschichte der Philosophie gibt es Vorläufer dafür, im Kern ist dieser Philosophietypus neu.

Dem Zeitgeist ist Holz’ Satz entgegengesprochen. Denn für die heute betriebene Philosophie, außer der marxistischen, gilt er nicht. In dieser fallen Denken und Handeln auseinander, ist das eine vom anderen unwiderruflich getrennt. Ja, auf dem Gebiet philosophischen Denkens hat Praxis kaum noch einen Ort, allenfalls den einer disziplinären Randerscheinung (in der Form ‚praktischer‘, d. h. meist ‚moralischer‘ Philosophie). Sicher, es gibt Ausnahmen, Versuche, Praxis in die Philosophie zu integrieren (so in Deutschland Jürgen Habermas), die aber eben doch die Ausnahmen einer Regel sind.

Hinter dem Satz von Holz steht ein anderer – den er im gewissen Sinn ergänzt und kommentiert, und das ist die berühmte 11. Feuerbach-These von Marx, die da lautet: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“16 Es ist ein Leitsatz marxistischen Denkens, der oft falsch verstanden wird. Denn er bedeutet natürlich nicht, dass künftig ohne Begriff (ohne ‚Interpretation‘) gehandelt werden soll, nichts wäre falscher als diese Folgerung. Er bedeutet, dass Theorie (die Interpretation der Welt ) und Praxis (die Veränderung der Welt ) künftig eine Einheit bilden sollen; als Bedingung dafür, dass die Weltveränderung gelingt. Denken ohne Handeln ist leer, Handeln ohne Denken ist blind : Man kann es auf diese an Kant erinnernde Formel bringen. Jede Theorie, will sie mehr sein als bloße Rhetorik des Begriffs, muss den Bezug zur Praxis, wie immer vermittelt, als theoretisches Telos (als Ziel des Denkens) in sich tragen. Jede Praxis bedarf der Theorie als Bedingung des Handelns, jede Theorie bedarf der Praxis als Bedingung des Denkens. Theorie und Praxis sind dialektisch aufeinander bezogen: Diese Einsicht ist es, die den Charakter philosophischen Denkens nach Marx und damit den neuen Typus von Philosophie im Marxismus wesentlich bestimmt: dass jede theoretische Philosophie zugleich praktische und jede praktische Philosophie zugleich theoretische ist.

Ein weiteres kommt hinzu. Im Verhältnis von Theorie und Praxis hat in der Konzeption marxistischer Philosophie die Praxis Priorität. Die Philosophie als Theorie ist nicht mehr Zweck an sich selbst. Sie dient dem Zweck der Weltveränderung – dem Ziel, „die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu erleichtern“ (Brecht, Leben des Galilei ). Die Veränderung der Welt: die Herstellung menschlicher Weltverhältnisse (‚menschlich‘ in einem emphatischen Sinn) ist das Ziel der Weltinterpretation. Damit aber impliziert dieses Konzept – die dialektische Einheit von Theorie und Praxis – eine politische Ethik, und zwar im Sinne eines normativen Horizonts praktischen Handelns. Marx selbst gebraucht dafür den Begriff des kategorischen Imperativs (den Grundbegriff des kantschen ethischen Denkens), wenn er in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung schreibt: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. (. . .) Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“17

Diese Sätze enthalten Norm und Ziel des ‚neuen Denkens‘, das Marx in den Feuerbach-Thesen den „neuen Materialismus“ nennt; jener auf Praxis bezogenen Theorie, die die Arbeit an einer menschenwürdigen Veränderung der Welt zum ultimativen Ziel hat: die Herstellung von Weltverhältnissen, in denen der Mensch nicht mehr erniedrigt, geknechtet, verlassen und verächtlich ist, sondern sich selbstbewusst zur vollen Würde erhebt – die ‚Kette abwirft‘ und die ‚lebendige Blume bricht‘.18 Es ist dies auch, in einem sehr genauen Sinn, der Inhalt, der die Philosophie in den Stand setzt, verbindliche Ziele unseres Handelns zu setzen, Orientierung in der Welt zu geben und Regeln der Lebensführung aufzustellen – der Sinn dessen, dass jede theoretische Philosophie zugleich eine praktische ist.

B. Gesamtzusammenhang als dialektischer Begriff

„Die Konstruktion des Gesamtzusammenhangs ist das eigentliche Feld der theoretischen Philosophie“, „ohne den sie ihre anderen Leistungen nicht begründen, nicht in einer ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ fundieren könnte“. So Hans Heinz Holz in einem 2011 erschienenen Essay, „Philosophie“, in dem er die Summe seiner philosophischen Auffassungen zieht.19 Und in der Tat: das ‚Denken des GZ, die „Konstruktion des Ganzen“, wie er auch an anderer Stelle sagt,20 steht von früh an im Zentrum seines Versuchs einer Grundlegung materialistischer Dialektik.21 Es ist ein Anspruch, der sich explizit auf die avanciertesten Positionen idealistischen Denkens stützt, die von Leibniz und Hegel, freilich in Form einer materialistischen Umkehrung. Er wird keineswegs von allen Vertreterinnen und Vertretern des heutigen Marxismus geteilt; im Gegenteil, er stellt eher eine ‚Außenseiterposition‘ innerhalb des Marxismus dar, oder auch: die Position eines philosophischen Avantgarde. Und ganz sicher ist: Soll der Marxismus als Weltanschauungsform im philosophischen Sinn – gar als ‚wissenschaftliche Weltanschauung‘ – begründet werden – im weitesten und präzisen Sinn des Begriffs –, so ist er unterhalb dieses Anspruchs nicht zu haben. Weltanschauungen zielen auf das Ganze menschlicher Welt und Welterfahrung, sie fragen nach dem Grund, und sie fragen nach dem Sinn, und kein nur kritischer oder analytischer Marxismus wird diese Fragen beantworten können.

Es ist sicher zutreffend zu sagen, dass die Kategorie des GZ – das ‚Denken des GZ‘ oder der ‚Welt als ganzer‘ – im Zentrum des holzschen Philosophierens steht, seines systematischen zumal; geleitet von der Einsicht, dass erst das Denken des GZ das epistemische Fundament bildet, das erforderlich ist, um die Einheit von Theorie und Praxis theoretisch zu fassen und das Ziel der Theorie, die menschenwürdige Umgestaltung der Welt praktisch ins Werk zu setzen; geleitet von der Einsicht zudem, dass der Marxismus als Weltanschauung nur in dieser theoretischen Gestalt konstituiert werden kann. In jeder anderen, ob als kritische Theorie, als analytischer oder strukturaler Marxismus, wie auch immer, bleibt er bestenfalls Theorie eines Partialbereichs – Theorie, die sich „mit diesem oder jenem Aspekt der Welt befasst“ – und vermag die Anforderung der Einheit von Theorie und Praxis nicht zu erfüllen. Nur als Denken des Ganzen, des ‚Ensembles von Weltverhältnissen‘ (wie auch in Anschluss an Marx gesagt werden kann)22 kann er den Charakter einer praxisorientierten Weltanschauung annehmen und das Postulat weltverändernder Praxis einlösen.

Was aber heißt ‚GZ‘ genau? Das ist hier die Frage, und das ist keine einfache Frage. Im holzschen Denken wird der Begriff an vielen Stellen behandelt. Der entscheidende Gesichtspunkt aber ist nicht die Quantität seines Vorkommens, sondern die zentrale Rolle, die der Begriff des GZ im Begründungszusammenhang dieses Denkens, besonders der Spätphase führt.23 So will er in seinem systematischen Hauptwerk, Weltentwurf und Reflexion eine „begründende Theorie der Dialektik“ leisten, die „die programmatischen Hinweise von Marx, Engels und Lenin“ einzulösen imstande ist; d. i. eine solche, „die den Ursprung der dialektischen Form aus den materiellen Verhältnissen der Welt ableiten kann“.

„Die von mir vertretene These besagt, daß die dialektische Verfassung der Welt selbst aus dem universellen, ontologisch begriffenen Widerspiegelungs- Verhältnis abgeleitet werden kann und dass in dem Widerspiegelungstheorem das Modell einer materialistischen Erklärung der Einheit der Welt in ihrer Mannigfaltigkeit vorliegt (. . .). Die sogenannte ‚subjektive Dialektik‘ (als Inbegriff der dialektischen Denkgesetze und Methode) ist nach dieser Auffassung dann a priori erweisbar als Widerspiegelung der ‚objektiven‘ Dialektik des Gesamtzusammenhangs des Seienden, also der ‚materiellen Verhältnisse‘ – und der Grund dieser Apriorität liegt in der notwendigen Einheit von Begriffsform und Wirklichkeitsform bei der Kategorie der Totalität.“24 ‚Totalität‘ nun begreift Holz, im Rückgriff auf Engels, „durch die ‚Theorie des Gesamtzusammenhangs‘“, ja es lässt sich sagen, dass hier ‚Totalität‘ und ‚GZ‘ zu synonymen Begriffen werden. In jedem Fall: ihre Schlüsselstellung in der holzschen Theorie ist evident. Der GZ nun, da er endliche Erfahrung grundsätzlich übersteigt, ist uns „nie empirisch gegeben“. Eine begründende Theorie der Dialektik wird daher diese nicht von den Gegenständen der Erfahrung her entwickeln, sondern wird sie „als die Form des Denkens der Gegenstände“ darstellen. Sie wird „mithin das Verhältnis des Denkens zu seinen Gegenständen außer ihm, also zum Sein, zu bestimmen haben“. Aus diesem Grund ist dann auch „die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Denken (. . .) die ‚Grundfrage der Philosophie‘.“25 Die Frage nach dem GZ grenzt so an die Grundfrage der Philosophie an, sie wird selbst nur als Antwort auf diese eine befriedigende Beantwortung finden. Diese Antwort ist nach Holz in dem Widerspiegelungstheorem formuliert. Sein Kern liegt darin, den erkenntnistheoretischen Realismus dadurch zu begründen, daß er aus einem Seinsverhältnis folgt, das entsprechend der Struktur des Spiegels beschrieben werden kann: so nämlich, daß das eine materielle Seiende (der Spiegel) die Eigenschaft habe, andere materielle Seiende und ihre Relationen (das Bespiegelte) abzubilden. Die Vermittlung zwischen Denken und Sein gründet dann in der Verfassung des Seins selbst, das reflektiert.

Erst eine solche ontologische Fundierung der erkenntnistheoretischen Abbildbeziehung erlaubt es, hinter die transzendentale Subjektivität der cartesisch- kantischen Linie „auf die materielle Verfassung des Seienden zurückzugehen“.26 Dieser „Übergang zur materialistischen Dialektik“ wird nicht durch „die bloße Substituierung des Erkenntnissubjekts durch den arbeitenden Menschen“ geleistet, denn sie lässt „die Vermittlung von Subjekt und Objekt immer noch als bloß durch den Akt des Subjekts vollzogen erscheinen“.

Dieser Übergang gelingt erst, wenn im Begriff der gegenständlichen Tätigkeit die materiellen Verhältnisse als das tätige Subjekt übergreifend gedacht werden, die Subjektivität mithin als Resultat eines Reflexionsprozesses der materiellen Natur selbst erkannt wird, die auch den Spiegel hervorgebracht hat, in dem sie sich (perspektivisch) darzustellen vermag. Das theoretische Weltverhältnis würde dann im praktischen zu fundieren sein.27

Das ausführliche Textreferat war notwendig, da hier der Grundansatz des holzschen Denkens in prägnanter Formulierung hervortritt. Sichtbar wird so auch das Begründungskonzept der Theorie des GZ: seine zentrale Rolle im ontologischen Begriff der Dialektik. Hervor tritt zugleich die Grundfrage marxistischen Philosophierens, mit ihr die kategoriale Bedeutung gegenständlicher Tätigkeit für das Problem seiner fundamentalen Begründung.28 Zugleich wird aber auch sichtbar, dass der GZ für Holz eine primär ontologische Kategorie ist – er damit aber auch auf der Ebene einer abstrakten Allgemeinheit verbleibt.

Meiner Auffassung nach ist damit die Bedeutung der Kategorie nicht erschöpft. An diesem Punkt setzen dann auch die folgenden Überlegungen an. Sie machen den Versuch einer kategorialen Konkretion, – wie ich es nennen möchte. Dabei wird der Begriff des Kategorialen (bzw. der Kategorie) im marxschen Sinn verwendet: als Ausdruck von „Daseinsformen, Existenzbestimmungen“.29 Kategorien sind keine der Wirklichkeit oktroyierten Begriffe, sondern sie sind Wirklichkeitsbestimmungen in begrifflicher Form: die wirkliche Welt, in Gedanken gefasst. In der kategorialen Explikation, wenn sie denn philosophisch korrekt erfolgt, geht es um die theoretische Erläuterung – die ‚Interpretation‘ – von Wirklichkeit.

Dabei verstehe ich einen solchen Versuch nicht als Widerspruch, sondern als Erweiterung des holzschen Denkens – als produktives Weiterdenken eines Vorgedachten; ein solches Weiterdenken gehört, ich sagte es, zum Charakter einer sich dialektisch und dialogisch verstehenden Philosophie. So sind die folgenden Überlegungen, auch wo sie nicht direkt an holzsches Denken anschließen, dialogisch auf dieses bezogen, und ich bin mir sicher, dass Holz selbst ihnen sein Interesse nicht versagt hätte.

II. Kategoriale Konkretion: Stufen des Gesamtzusammenhangs

Wie nun, weitergefragt, ist das Denken des GZ möglich? Es ist ganz sicher nur auf der Grundlage bestimmter Bedingungen möglich. Wenn Holz von der Konstruktion des GZ als der eigentlichen Arbeit der Philosophie spricht, so meint er: Konstruktion auf einer bestimmten Grundlage – der der Wissenschaften. Ohne diese bliebe die Konstruktion des GZ eine leere Reflexion. Folgerichtig bestimmt er (in dem oben zitierten Leitsatz) den Marxismus als eine Philosophie, die eine Auffassung der Welt als ganzer in ihrer Entwicklung geben will und diese Auffassung von den Einsichten der Wissenschaften her und aus ihrer Interpretation zu einem GZ gewinnt. Die Nuancierung dieses Satzes ist sehr genau zu beachten: die Philosophie gewinnt ihre Auffassung der Welt als ganzer auf der Grundlage der Einsichten der Wissenschaften, und zwar auf dem Weg der Interpretation dieser Einsichten zu einem GZ. Die Konstruktion des GZ, den die Philosophie leistet, erfolgt also in der Interpretation der Erkenntnisse der disziplinären Wissenschaften (ich würde hinzufügen: in Kooperation mit dem durch die Künste erschlossenen Wissen von Welt – aber das wäre ein weiteres Thema). Die eigentliche Aufgabe der Philosophie ist diese Interpretation – die Interpretation der wissenschaftlichen Ergebnisse mit dem Ziel einer Konstruktion (eben: des GZ); eine Arbeit, die von den Wissenschaften selbst nicht geleistet werden kann. Damit ist die Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber ihnen gewahrt, zugleich wird dem Tatbestand Rechnung getragen, dass Philosophie heute nur auf der Basis der Wissenschaften Gültigkeit haben kann. Es handelt sich also gerade nicht, was heute Konjunktur hat, um die Verallgemeinerung einzelwissenschaftlicher Ergebnisse zu einer Allerweltsphilosophie, verbunden mit der Prätention der ‚Lösung‘ angeblich bislang ‚ungelöster‘ philosophischer Kernprobleme (so der Anspruch bestimmter publizitätssüchtiger Zweige der Neurowissenschaften auf die Lösung ungelöster philosophischer Probleme wie dem der Willensfreiheit)30 – das Resultat solcher Bemühungen läuft in der Regel auf eine Trivialphilosophie hinaus.

Welche unerhörten Schwierigkeiten der Einlösung dieses Programm mit sich bringt, weiß jeder, der sich mit ihm eingelassen hat. Doch darf das kein Grund sein, es fallenzulassen. An der Lösung schwerer Probleme beweist sich die Meisterschaft – und Existenzberechtigung – der Philosophie. Sie ist dann auch mehr als die bloße Summe der Wissenschaften, auf denen sie beruht. Ist sie ihrem Begriff gerecht, so wird sie, wie Hans-Gert Gräbe treffend schreibt, „sich der Ergebnisse von science versichernd – weiter an den Außenposten menschlichen Denkens stehen und in die unerschlossenen Räume spähen“.31 Leitlinie dieses Denkens „kann nur die 10. Feuerbach-These sein“.32 Das heißt aber auch, dass mit dem holzschen Denken das Programm dieses Denkens nicht abgeschlossen, sondern vielmehr erst eröffnet ist.

Der Begriff des GZ, erinnern wir, geht auf Engels zurück. In den Planskizzen der Dialektik der Natur nennt dieser die Dialektik die „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“, an anderer Stelle die „Wissenschaft von den Zusammenhängen“.33 Der Begriff ist auf das Ganze der dem Menschen praktisch und theoretisch zugänglichen Wirklichkeit bezogen. Diese wird als dialektisch verfasst, damit gesetzmäßig konstituiert gedacht. Die Grundbestimmungen der Dialektik konstituieren als Gesetze den Zusammenhang des Wirklichen.34 Sie werden damit als Strukturbestimmungen des Seins in einem ontologischen Sinn aufgefasst.35

Der GZ lässt zudem an Marx’ Begriff des Ensembles (so „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ in den Feuerbachthesen) bzw. der Totalität denken.

Ensemble heißt ein Ganzes, das organisch zusammengehört, dessen Glieder miteinander verbunden sind. ‚Totalität‘ meint gleichfalls ein zusammenhängendes Ganzes, hat jedoch die Konnotation von etwas Abgeschlossenem. Bei einem dialektischen Begriff des Ganzen kommt es freilich darauf an, dieses Ganze prozessual, als Prozesszusammenhang zu denken. Dieser Anforderung genügt der Begriff ‚Zusammenhang/Gesamtzusammenhang‘. Er meint ein Ganzes, das gleichwohl offen, prozessual, ein Prozessganzes sein kann. Ich möchte von einem prozessual-gestuften, strukturierten Ganzen sprechen Dabei unterscheide ich in einem ersten Zugriff zwischen fünf kategorialen Dimensionen (prozessualen Stufen) des GZ:36 1. der Alltag als GZ, 2. der GZ einer Gesellschaft/gesellschaftlichen Formation, 3. der GZ des geschichtlichen Prozesses, 4. Einheit und Differenz von menschlicher Welt und Natur: GZ als ontologischer Begriff, 5. das Denken des Seienden im Ganzen und die Frage nach dem Grund und Sinn von Sein: der GZ als metaphysischer Begriff. Die kategorialen Stufen bilden in sich zusammenhängende Bereiche, die bereits für sich den Charakter eines GZ besitzen, die freilich miteinander verbunden sind, ineinander übergehen. Insgesamt konstituieren sie den GZ als Totalität. Diese Totalität wäre im Sinne von Holz als universale Reflexivität zu bestimmen – universaler Widerspiegelungszusammenhang. Der GZ als Totalität besteht aus Teilen von relativer Selbständigkeit.37

1. Der Alltag als Gesamtzusammenhang und die Kategorie des Weltwissens

Der Begriff des GZ hat kategorial seine Wurzeln in der Praxis des Alltagslebens. Dieses wird von den Individuen intuitiv als Zusammenhang erfahren; eine Erfahrung, die gleichwohl durch verschiedene Faktoren bestimmt, also gesellschaftlich konstituiert ist. Für das Alltagsleben konstitutiv ist ein Weltwissen, das Bedingung ist für die lebenspraktische Weltorientierung, damit aber auch Bedingung menschlicher Reproduktion. Es ist Teil der ‚Jedermannsphilosophie‘ (Gramsci), die dem alltäglichen Bewusstsein zugehört. Diese ordnet den Einzelnen in den Zusammenhang einer gesellschaftlichen Welt ein, in das Oben und Unten gegebener Weltverhältnisse – die hierarchische Anordnung der Verhältnisse von Herrschaft und Eigentum. Zugleich fungiert sie als Instanz der Sinngebung. Durch die hierarchische Einordnung in gegebene Weltverhältnisse wird, auf individueller wie sozialer Ebene, ‚Sinn‘ konstituiert. Der Alltag bildet so die Grundform des GZ und seines Bewusstseins. Dieses ist illusionär und real zugleich. Die Instanzen der Vermittlung eines solchen Zusammenhangsbewusstseins und der ihm entsprechenden psychischen Disposition sind traditionell Familie, Schule, Kirche. In der hochtechnologischen Zivilisation des entwickelten Kapitalismus treten die medialen Instanzen der Zivilgesellschaft, die ‚neuen‘ technologischen Medien (Fernsehen, Computer) wie die Fetische des Markts hinzu, die als neue Vergesellschaftungsformen von Psyche und Bewusstsein die alten teils ergänzen, teils ersetzen.38

In der Jedermannsphilosophie des alltäglichen Bewusstseins sedimentiert ist aus der Welterfahrung stammendes Wissen (‚experientielles Wissen‘, ‚elementares Weltwissen‘). Seinen genetischen Kern hat es in basalen Prozessen menschlicher Lebenspraxis: in Prozessen menschlicher Reproduktion, im Komplex gegenständlicher Tätigkeit, in der materiellen Arbeit (die hier als Modell dienen kann).39 Es mischt sich mit ideologischen Formierungen. Diese entstammen einerseits der Erfahrung gegebener Weltverhältnisse, ihrer Macht- und Herrschaftsformen, die von den Individuen mental verarbeitet werden (die Religion nach Marx ist eine solche Verarbeitungsform entfremdeter Weltverhältnisse), sind zugleich aber auch Niederschlag einer durch die ideologischen Institutionen bewirkten psychisch-mentalen Formierung. Die Individuen werden so in doppelter Weise ideologisch vergesellschaftet: durch die subjektive Verarbeitung entfremdeter Lebensverhältnisse und durch eine Formierung ‚von oben‘ (Haug). Funktion solcher Vergesellschaftung ist die Herstellung der Akzeptanz gegebener Weltverhältnisse (‚Akzeptanz-Habitus‘).40 Sie wird durch Interiorisierung der diese Verhältnisse stützenden Werte bewirkt. Akzeptanz- Habitus und Wert-Interiorisierung dienen dem Zweck hegemonialer Herrschaft, die auf der Zustimmung der Unterworfenen zu den gegebenen Macht- und Eigentumsverhältnissen beruht. Hegemoniale Zustimmung ist Bedingung für deren Fortexistenz.

Eine prototypische Form des Akzeptanz-Habitus – sie wirkt in die höchsten geistigen Formen hinein, so in Kunst und Philosophie – ist die Auffassung einer Unveränderbarkeit der gegebenen Weltverhältnisse, so schlecht sie auch sein mögen: ihrer Gottgegebenheit, fatalistischen Unabänderbarkeit usf. Solche Schemata – hier können wir legitim von ideologischen Schemata sprechen – sind auswechselbar und müssen nach Konjunktur und politischer Lage ausgewechselt werden, sollen sie ihre stabilisierende Funktion nicht verlieren. So reüssiert das Schema der ‚bestmöglichen Welt‘ nur in den sehr seltenen Zeiten eines relativen Wohlstands der subalternen Klassen.

Das alltägliche Bewusstsein ist ideologisch komplex. In ihm ist richtige Erkenntnis in Form eines aus der Erfahrung stammenden, auch durch Tradition vermittelten Weltwissens sedimentiert. Dieses koexistiert mit einem der ideologischen Vergesellschaftung entstammenden verkehrten Bewusstsein. Für die imperialistische Gesellschaft ist die zunehmende Verarmung des experientiellen Anteils des Alltagsbewusstseins zu konstatieren – bei Zunahme des fetischisierten Bewusstseins. Gemeint ist damit, dass die Fetische des Alltags eine solche Macht über das menschliche Bewusstsein gewinnen (das gilt beileibe nicht nur für das Alltagsbewusstsein, es gilt für den geistigen Lebensprozess in dieser Gesellschaft insgesamt), dass es das Gegebene, und sei es noch so schlecht, als schlechterdings versteinert erlebt – als ‚schwarzes Loch‘, jenseits jeder Verbesserung; mit Folgen, die in psychotische Verhaltensweisen führen, in Vereinsamung, Resignation, Suizid und Gewaltexzess; zu Obsessionen jedweder Art, die in der Faschisierung des Bewusstseins kulminieren – oder in der infantilen Regression von Bewusstsein und Psyche ihr Ende nehmen.

Eine emanzipatorische Praxis, die sich das Ziel setzt, die Menschen subjektfähig, also zu selbsttätigen Subjekten ihres Handelns zu machen, hat exakt an diesen Tatbeständen anzusetzen: denen der Deformation wie an den humanen Potentialen des zerstörten Lebens. An dieser Schnittstelle von Deformation und Wahrheit im alltäglichen Bewusstsein setzt das Denken des GZ ein. Die Ursachen und die Struktur der Verschüttungen sind zu erkennen und den Betroffenen erkennbar freizulegen. Herzustellen ist der Blick auf die realen Verhältnisse, in denen die Menschen leben. Es sind, um das Grundverhältnis von Kapital und Arbeit gruppierte Verhältnisse von Herrschaft und Eigentum – die unsichtbar auch den Alltag durchdringen und die Menschen bis in intime Bereiche ihrer Lebensweise bestimmen. Zu erkennen ist, wer die wirkliche Macht in dem Staatswesen hat, das sich Demokratie nennt, also Herrschaft der Vielen, des Volks, in Wahrheit aber eine verdeckte Diktatur ist: ‚Plutokratie‘, Herrschaft der Wenigen, die über das Kapital verfügen. Herzustellen ist ein umfängliches Orientierungswissen, das den Alltag in seiner wirklichen Verfasstheit erfahrbar und erkennbar macht; das auch die Mechanismen durchsichtig werden lässt, in der die alltägliche Reproduktion von Herrschaft erfolgt. Nur so kann ein Wissen entstehen, dass eine verlässliche Weltorientierung verschafft. Dazu gehört, dass die gegebenen Verhältnisse als gewordene erkannt werden – damit aber auch als werdende und der Möglichkeit nach veränderbare. Sie werden erkannt, im Ansatz zumindest, in ihrer internen Geschichtlichkeit. Aus dem ‚So war es immer‘ der resignierten Akzeptanz kann ein ‚So wird es nicht immer sein‘ der begriffenen Hoffnung werden.

Eine emanzipatorische Praxis, die dieses Ziel hat, ist ein anti-ideologisches Manöver. Sie setzt beim Ringen um Psyche und Bewusstsein der Menschen an. Die Arbeit der Kritik hat hier eine Schlüsselfunktion: Kritik der gegebenen Weltverhältnisse wie des sie reproduzierenden Bewusstseins. Kritik schließt Herrschaftskritik, Bewusstseinskritik und Selbstkritik ein. Fundiert ist sie durch das, was Marx Kritik der politischen Ökonomie nannte: die kritische Analyse der Basisstruktur einer gegebenen Gesellschaft wie der ihr entspringenden sozialen Formen; eine Kritik, die mit der Entwicklung dieser Gesellschaft immer neu zu leisten ist. Zu durchbrechen ist der ideologische Schein, der die Welt auf den Kopf stellt. Die Verkehrung ist umzukehren, denn nur auf die Füße gestellt, erkannt in ihrer materialen (oder ,realen‘) Verfasstheit, kann die Welt verändert werden. Den Dingen und Dingverhältnissen ist ihre wahre Kontur zurückzugeben. Dazu gehört, dass die Dinge des Alltags und ihre Verhältnisse als Teile eines größeren Ganzen erkennbar werden: einer besonderen Gesellschaft, die über die der Alltagswelt hinausgeht. Diese Gesellschaft besitzt eine spezifische Struktur (Architektonik) und ist Teil einer Gesellschaftsformation, die ihrerseits mehr ist als die besondere Gesellschaft. Die nächste Stufe im kategorialen Aufbau des GZ ist daher die der Gesellschaft mit den kategorialen Bestimmungen der konkreten Gesellschaft, gesellschaftlichen Struktur und gesellschaftlichen Formation.

Erweiternde Überlegung I: Arbeit als epistemische Kategorie: zur Genesis elementaren Weltwissens41

Elementarform bewusster Lebenstätigkeit und Modell gegenständlicher Tätigkeit ist die Arbeit. Sie ist Elementarform, weil sie menschliches Überleben, die Reproduktion der Gattung in allen entwickelten Gesellschaften sichert. Sie ist damit auch das Fundament des Prozesses der Kultur. Zugleich ist sie – nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem Totum menschlicher Lebenstätigkeit – Keimform menschlichen Weltwissens, also konstitutiv für den GZ in einem alltagspraktischen (oder ‚lebensweltlichen‘) Sinn. Wie ist dieser Sachverhalt zu denken und wie ist dieses Wissen konstituiert?

Die menschliche Arbeit (ich folge Marx) ist ein Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur, in dem sich eine „Naturmacht“ mit einem „Naturstoff“ vermittelt.42 Zur „Naturmacht“ Mensch gehören als „Naturkräfte“ Arme, Beine, Hand und Kopf. Der Kopf nun ist kein physisches Mittel, sondern ein ideell-konzeptives. Er ist der Träger des Gehirns: der somatische Ort des Logos. ‚Kopf‘ steht für Denken, Bewusstsein, die konzeptive Fähigkeit des Menschen, die den Arbeitsprozess vorbereitet, ordnet und begleitet, die strukturbildend in ihn eingeht. Bereits auf der anthropologisch elementarsten Stufe, der Bestimmung menschlicher Arbeitskraft als erster menschlicher Produktivkraft, kommt dem Bewusstsein also eine konstitutive Funktion im Ensemble menschlicher Vermögen („Naturkräfte“) zu. Es ist notwendiger Bestandteil dieser Vermögen. Jede gegenständliche Tätigkeit ist konzeptives Tun: bewusstes zielgerichtetes Handeln in einer objektiv gegebenen gegenständlichen Welt. Damit aber wird Bewusstsein als Teil des materiellen Seins begriffen. Ja, die Arbeit als erste Produktivkraft ist Einheit physischer und ideeller (‚logischer‘) Momente, das Menschlich-Materielle ist diese Einheit, dies ist sein Spezifikum. Es ist konstituiert als Synthesis, es besitzt eine dialektische Struktur.

Im Arbeitsprozess gesetzt sind ein Subjekt der Arbeit, ein Objekt der Arbeit, die Instrumente der Arbeit, das Ziel der Arbeit und der Arbeitsprozess selbst. Dieser ist als Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten zugleich ein Akt der Aneignung der Natur. Er ist allgemeine Bedingung des Stoffwechsels von Mensch und Natur und ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens. Als Bedingung jeder Form dieses Lebens ist er von allen seinen besonderen Formen unabhängig. Er ist das materielle Fundament dieser Formen, die allen Gesellschaftsformen gleich gemeinsame Bedingung ihrer Existenz. Die Rolle des Bewusstseins für diesen elementaren Zusammenhang besteht darin, dass es diesen Prozess konzeptiv strukturiert: d. h. ihn plant und sein Ende antizipierend vorwegnimmt. „Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war“. Dies unterscheidet „von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene“.43 Arbeit bedeutet Formveränderung des Natürlichen und bewusste menschliche Zweckverwirklichung im Natürlichen,44 und diese Bestimmung gilt, in einem grundlegend-anthropologischen Sinn, für jede Gestalt menschlicher Arbeit und für jede Form menschlicher Kultur – bis in die archaischen Stufen zurück. Sie gilt für den Arbeitsprozess „unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form“, in einer Form allerdings, worin er „dem Menschen ausschließlich angehört“,45 also unterschieden ist von den Arbeiten Spinne und Biene wie auch von den „erst tierartig instinktmäßigen“ Formen menschlicher Arbeit in der Phase der Bildung des Anthropos. Auf dieser Ebene („der Mensch einmal gesetzt […], als beständige Voraussetzung der Menschengeschichte […], als beständiges Produkt und Resultat“ [MEW 26/3, 482.]) gilt, dass der Produzent das Arbeitsprodukt erst im Kopf produziert, bevor er es durch praktische Tätigkeit gegenständlich in die Welt setzt. Menschliche Arbeit besitzt, als Formveränderung des Natürlichen und Zweckverwirklichung im Natürlichen, eine teleologische Struktur – sie ist „zweckmäßige Tätigkeit“,46 eine „teleologische Setzung“ (Lukács). Ich spreche hier vom teleologischen Bewusstsein, das mit dem Arbeitsprozess, mit gegenständlicher Tätigkeit überhaupt, in der Welt ist.

Zu diesem Bewusstsein, und als Bestandteil ihm zugeordnet, gehört weiter das Wissen des Mittels – instrumentelles Bewusstsein. Das Arbeitsmittel ist „ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand dienen“,47 und sein Gebrauch setzt ein komplexes Wissen über den Charakter des Mittels, das Verhältnis von Mittel und Gegenstand sowie die Mittel-Zweck-Relation voraus.48 Der Mensch ist „ein Werkzeuge fabrizierendes Tier“, „der Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln (…) charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozess“ (ebd.). In dem elementaren instrumentellen Bewusstsein liegt der genetische Grund für den Rationalitätstypus der instrumentellen Vernunft, der unter den Bedingungen kapitalistischer Herrschaft zum heute dominanten Rationalitätstypus geworden ist.

Zum Arbeitsprozess gehört also ein komplexes System des Wissens. Es umfasst innerhalb der teleologischen Struktur neben dem instrumentellen Wissen und an dieses gekoppelt die genaue Kenntnis des Arbeitsgegenstands. Dieser muss in seinen Eigenschaften erkannt und bekannt sein. Nur dann kann er in Präferenz vor anderen Gegenständen als je besonderer ausgewählt, der geeignete dem ungeeigneten vorgezogen werden, kann eine Selektion unter zuhandenen Seienden erfolgen. In diesem Sinn ist das teleologische Bewusstsein objektbezogen; ja, seine Objektbezogenheit hat Vorrang vor dem Bewusstsein des Mittels. Je nach Beschaffenheit des Objekts wird das Mittel gewählt.

Zum teleologischen Bewusstsein gehört neben dem objektbezogenen, und gleichrangig mit ihm, das subjektbezogene Bewusstsein und damit ein Moment von Selbstreflexivität: ein Wissen des Arbeiters von sich selbst; so die Fähigkeit, seine eigenen Kräfte einzuschätzen und auszubilden. Die Fähigkeit, einen Arbeitsgegenstand zu erkennen und auszuwählen – als identischen (A=A) zu setzen –, hat im intelligiblen Vermögen des Subjekts seinen Grund. Weiter gehört zu diesem Bewusstsein ein methodisches Wissen: die Fähigkeit, die einzelnen Arbeitsschritte zu planen und in Arbeitsverfahren umzusetzen. Das Bewusstsein auf dieser Ebene ist ein solches einer expliziten Subjekt-Objekt- Relation.

Der Arbeitsprozess ist dem Subjekt der Arbeit also in seiner gesamten kategorialen Blüte gewusst. Zu sprechen ist also von einer hochgradigen Komplexität des durch ihn konstituierten Bewusstseins und Wissens, das innerhalb des Komplexes menschlicher Lebenstätigkeit die Funktion orientierenden Weltwissens in einem hohen Maß erfüllt.

2. Der Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft. Konkrete Gesellschaft, gesellschaftliche Struktur und gesellschaftliche Formation

Ein Alltag, wenn er als GZ erfahren und begrifflich erfasst werden soll, verweist auf das größere Ganze, in dem er steht und deren Teil er ist, und das ist zunächst das Ganze einer besonderen (konkreten) Gesellschaft. Diese kann als regionaler Raum beschrieben werden, der seinerseits Teil einer größeren Einheit ist, wie sie historisch etwa in der Form der Polis oder des Nationalstaats auftreten. Letzterer ist die politische Form, in der sich die neuzeitliche Geschichte, der Kapitalismus als Formation in seiner ‚klassischen‘ Phase konstituierte. In dieser Phase bildete er den politischen GZ kapitalistischer Gesellschaften. Wer bewusst handelnd, politisch handelnd tätig sein will, sei es auch nur in dem begrenzten Raum, den er als Alltag kennt, wird sich ein Bild von diesem Ganzen der besonderen Gesellschaft machen müssen, in dem der Alltag, in dem er lebt und handelt, eingelagert ist. Er wird sich einen konkreten Begriff ihrer ökonomischen, sozialen, kulturellen, ideologischen Verhältnisse zu verschaffen haben, wenn überhaupt sein Handeln Erfolg haben soll. Es wird ein anderes Bild sein als das, das der ideologische Schein vortäuscht, ein Bild der konkreten gesellschaftlichen Verfasstheit der ökonomischen Struktur wie der Verhältnisse von Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion.

Die leitende Kategorie für diese Erkenntnis ist der Begriff der gesellschaftlichen Struktur. Die Gesellschaft ist als strukturierter Zusammenhang zu begreifen: in der Architektonik von Basis/Überbau/ziviler und politischer Gesellschaft (im Sinne von Marx und Gramsci); in einer Architektonik, die gleichwohl nicht starr, sondern in geschichtlicher Bewegung, als Einheit von Raum und Zeit (‚Raum-Zeit-Kontinuum‘) zu denken ist, mit der Produktionsweise als Grundschema dieser gesellschaftlichen Struktur.

Zu erkennen ist weiter, wer die Macht in diesem gesellschaftlichen System hat, wer sie vertritt, wer sie durchsetzt, wer gegen sie opponiert, wer gegen sie kämpft. Es darf kein illusionäres, es muss ein genaues Bild sein, und es muss möglichst vollständig sein – ein Bild eben des GZ dieser Gesellschaft. Es ist keine leichte Aufgabe. Erfordert ist die ‚Anstrengung des Begriffs‘. Die Aufgabe wird nur zu lösen sein, wenn die Gesellschaft von ihrem formativen Kern her begriffen wird, und dieser besteht in dem Verhältnis von Kapital und Arbeit in einer bestimmten historischen Form – heute: in der imperialistischen Form dieser Gesellschaft.

Teil dieser Aufgabe ist nicht zuletzt auch, neben der Kenntnis der Kräfte, die das existierende Herrschaftssystem stützen, das Erkennen der Kräfte des Widerstands: derer, die es in einem emanzipatorischen Sinn verändern wollen, mit denen es gilt, sich zusammenzuschließen. Auch solche Erkenntnis ist, unter den gegebenen Weltverhältnissen, eine teuflisch schwere Aufgabe, an der schon mancher gescheitert ist. Man kann sich leicht in seinen Bündnispartnern täuschen. Denn auch hier arbeitet eine ganze Ideologieindustrie daran, die wahren Verhältnisse, auch die Kräfteverhältnisse zu vertuschen oder auf den Kopf zu stellen.

Zum Begriff gegenwärtiger Gesellschaft gehört, dass diese nicht mehr in die Form einer abgeschlossenen nationalen Einheit besitzt. Der Kapitalismus in seiner heutigen hochentwickelten Phase hat, wie bereits von Marx und Engels diagnostiziert, einen kosmopolitischen Charakter. „Mit der Exploitation des Weltmarkts“, schreiben diese im Kommunistischen Manifest, hat die Bourgeoisie „die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat (. . .) den nationalen Boden der Industrie unter den Boden weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden (. . .). Sie werden verdrängt durch neue Industrien (. . .), die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate (. . .) in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“49 Dies gilt für die materielle wie für die geistige Produktion. Antizipiert ist hier – in ungleich präziserer Begrifflichkeit –, was heute unter dem Namen der ‚globalen Welt‘ in aller Munde ist. Die Gesellschaft, in der wir leben und handeln, ist ‚Weltgesellschaft‘ – wie in Analogie zum Begriff der ‚Weltgeschichte‘ zu sagen ist. Der ‚weltgesellschaftliche Charakter ist konstitutiver Bestandteil des Imperialismus als Formation. Wollen wir also die Gesellschaft, in der wir leben und handeln, als GZ beschreiben, so ist sie als Teil einer gesellschaftlichen Formation zu beschreiben, die weit umfassender ist als die nationale Gesellschaft, die wir zunächst im Auge hatten. Für diesen Zusammenhang bietet sich nach wie vor der (heute nicht unumstrittene) Begriff des Imperialismus an: als Phase einer bestimmten gesellschaftlichen Formation.

Gesellschaft als Formation heißt: Sie wird als ein von der ökonomischen Basis (Produktionsweise) her strukturiertes Ganzes mit interner Geschichte begriffen, die „die Tatsachen der gesellschaftlichen Entwicklung“ dadurch erklärt, dass sie die „Existenz einer Struktur und zugleich ihrer Geschichtlichkeit“ miteinander verbindet (Hobsbawm).50 Bei Marx bezieht sich der Begriff Gesellschaftsformation auf „eine „Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe (…) mit eigentümlichem, unterscheidendem Charakter“,51 wobei den „Produktionsverhältnissen in ihrer Gesamtheit“ eine den Charakter dieser Gesellschaft bestimmende Funktion zukommt. Im Formationsbegriff wird der historische Formierungsprozess der menschlichen Gesellschaft in seiner gesamtgeschichtlichen Dimension erfasst. Unterschieden werden verschiedene historische Grundtypen von Gesellschaft seit der Urgesellschaft, und zwar im Sinne einer „progressiven Formierung durch fortschreitende Existenzsicherung“. So unterscheidet Marx „in großen Umrissen“ „asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation“.52 Der Begriff des GZ erweist sich hier also als Begriff einer historischen Raum-Zeit-Struktur, und zwar in gattungsgeschichtlicher Perspektive.

3. Der Gesamtzusammenhang des geschichtlichen Prozesses

Mit dem Begriff der Gesellschaftsformation ist der Begriff der Geschichtlichkeit in die Beschreibung von Gesellschaft explizit einbezogen. Diese kann vollständig nur als Teil des historischen Prozesses verstanden werden. In diesem Sinn ist Gesellschaft Teil des GZ ‚Geschichte‘. So ist die gegenwärtige Gesellschaft Glied eines geschichtlichen Ablaufs, der in früheste historische Stufen zurückreicht, in Europa in das ‚Eurasische System‘,53 den Alten Orient und die Europäische Antike, der über den Feudalismus in die kapitalistischen Gesellschaften der Neuzeit führt, die ihrerseits in bestimmte formationsgeschichtliche Phasen untergliedert ist, in deren bislang letzter, dem Imperialismus wir heute leben.

Mit der Entwicklung der kapitalistischen gesellschaftlichen Formation zum kosmopolitischen Kapitalismus der Gegenwart ist die menschliche Geschichte in die Epoche der Weltgeschichte getreten – „die Geschichte Europas wurde zur Geschichte der Welt“ (Löwith) – Resultat des Kosmopolitismus der kapitalistischen Produktionsweise. Ein solcher Begriff von Geschichte stellt die Gegenwart, die der Zeitpunkt unserer unmittelbaren Erfahrung ist und von deren Standpunkt aus wir reden, in den Zusammenhang eines geschichtlichen Prozesses, der letztendlich in die Ursprungsgeschichte der Menschheit zurückreicht – wiederum ist ein offener GZ gemeint. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, sollen wir ihn unerschöpflich nennen?“ (Thomas Mann) Hier zeigt sich: die Unmittelbarkeit unserer alltäglichen Erfahrung wie des Bewusstseins von ihr ist auf komplexeste Weise vermittelt. Die scheinbar geschichtslose, versteinerte Welt des Faktischen – Welt als „Gesamtheit der Tatsachen“ (Wittgenstein) – gibt sich als prozesshaft zu erkennen, als werdend gewordene: historisch geworden, im Werden begriffen, nach vorn offen – als schwanger mit Möglichkeit. Geschichte zeigt sich in der Trinität von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Brecht hat diesen Sachverhalt im Sinne einer historischen Erfahrung im „Lied von der Moldau“ auf eine unnachahmlich einfache, einprägsame Formel gebracht:

Am Grunde der Moldau wandern die Steine Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Erst in seiner geschichtlichen Dimension, als diese Trinität, erhält der Begriff des GZ jene Konkretion, die ihn als Grundbegriff für die Konstitution des Marxismus als Weltanschauung tauglich macht. Dieser ist in historischer Dreidimensionalität das Denken der Gegenwart wie des historischen Prozesses, der zu ihr führte, und er ist Denken des Möglichen im Wirklichen: begriffene Zukünftigkeit (Bloch). In diesem Sinn ist er begriffene Geschichte und konkrete Utopie. Dies, so die hier vertretene Grundthese, steht im Zentrum des Marxismus als einer philosophischen Weltanschauung. Es ist ihr Kern, der aus dem geschichtlichen Charakter des Marxismus notwendig folgt. Denn Zukunft ist nichts der Geschichte Äußerliches. Sie gehört im wesentlichen Sinn zu ihrer Struktur. Die Wirklichkeit im Marxismus wird begriffen als gewordene und werdende.

Erst als geschichtliches kann das Denken des GZ also zu einem umfassenden Orientierungswissen werden, zeigt es den historischen Ort an, an dem wir stehen – woher wir kommen, wohin wir gehen (oder gehen können). Erst in diesem Sinn erhält auch der Begriff menschlicher Freiheit – als ‚determinierte‘ Freiheit – eine konkrete Bedeutung. Allein solches Wissen setzt uns in den Stand, auch in Zeiten der Niederlage nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, gibt Mut in der Verzweiflung, behält auch in finsteren Zeiten das Ziel einer Welt im Auge, in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“ (Brecht, „An die Nachgeborenen“). Allein ein historischer Blick vermag mit dem Vergangenen auch das Gegenwärtige und Zukünftige zu erkennen – in der Latenz seiner Möglichkeiten zwischen Weltkatastrophe und Utopie.

Erweiternde Überlegung II: Dreidimensionalität der Wirklichkeit und ihrer theoretischen Form: begriffene Geschichte und konkrete Utopie

A. Begriffene Geschichte: der Marxismus als historisches Erkennen, Gegenwartsdiagnose und antizipatorisches Denken

Wirklichkeit als gewordene und werdende heißt: Sie ist Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die Wirklichkeit, die der Marxismus als Theorieform erforscht, ist als geschichtliche dreidimensional strukturiert. Sie ist auf die drei Dimensionen der Zeitlichkeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerichtet. Zum nichthintergehbaren Relativitätsprinzip des Erkennens gehört, dass diese Forschung in einer je gegebenen Gegenwart den Standort hat, von dem her sie Vergangenheit und Zukunft erschließt. Der Tigersprung historischen Erkennens erfolgt vom Standpunkt der Gegenwart. In diesem strukturierten Sinn ist der Marxismus dreierlei: Er ist historisches Erkennen, insofern er die Vergangenheit erforscht; er ist antizipatorisches Denken, insofern er die Zukunft erkundet, und er ist Diagnostik der Gegenwart, insofern er die Zeit begreift, in der er steht. Diese zeitliche Dreidimensionalität des Erkennens bildet einen Zusammenhang. So wird die Diagnose einer Gegenwart ohne Kenntnis der Vergangenheit und Durchdenken der Zukunft (der Möglichkeitsdimension eines historisch Wirklichen) nie vollständig zu haben sein. Historisches Erkennen ohne Bezug zur Gegenwart ist steriler Historismus, antizipatorisches Denken ohne Grund im Gegebenen abstrakte Utopie. Der Ort der Gegenwart nun ist der Punkt in der Zeit, der dauerndem Wechsel unterworfen ist. So stellt sich auch die Frage nach Zukunft und Vergangenheit in jeder neuen historischen Lage neu. Auch in diesem Sinn ist der Marxismus eine nie abgeschlossene, prinzipiell unabschließbare Theorie. Sicher: Der Fundus des gesicherten Wissens wächst, und auf ihm ist aufzubauen. Der Prozess der Erweiterung aber ist unabgeschlossen. Zudem ist das überlieferte Wissen stets neu anzueignen, es ist für die Lösung anstehender Aufgaben produktiv zu machen. Nur als produktives Wissen hat es einen Sinn, der über seinen museal-historistischen Wert hinausgeht. Wie das gesamte Universum der überlieferten Kultur ist auch das überlieferte Wissen von jedem neuen historischen Zeitpunkt neu anzueignen.

B. Konkrete Utopie: das Denken einer neuen Kultur

Der Marxismus ist nicht nur das Denken gegebener Wirklichkeit, sondern auch das Denken des Möglichen als Teil dieser Wirklichkeit. Die Welt, die er in Gedanken fasst, enthält als geschichtliche die Zukunft im Sinn historischer Möglichkeit. Gerade weil der Marxismus auf das Ganze einer historischen Welt geht, ist er mit dem Denken des Gegenwärtigen und Vergangenen auch Denken des Zukünftigen: antizipatorisches Denken im Sinn eines Denkens konkreter Utopie. Seine Kernkategorie ist der Begriff einer neuen Kultur. Die Frage nach konkreter Utopie ist als Frage nach den Konturen dieser neuen Kultur zu stellen. Mit dieser Frage geht es um keinen Rückfall in einen utopischen Sozialismus, vielmehr um das Einbringen eines wissenschaftlich begründeten utopischen Moments in das marxistische Denken selbst – im gewissen Sinn um ‚wissenschaftliche Utopie‘.

Neue Kultur meint die Kultur einer sozialistischen, in historischer Perspektive kommunistischen Gesellschaft, d. h. einer solchen, die auf gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln aufbaut, in der die große Mehrheit der Menschen, idealiter alle Menschen die bestimmenden Subjekte politischen Handelns sind, deren Geschichte durch kooperative Planung geregelt ist, die juristisch die Form einer universal geltenden materialen Rechtsgesellschaft besitzt (d. h. einer solchen, in der uneingeschränkt Rechtsgleichheit herrscht, die individuellen und kollektiven Menschenrechte universal verwirklicht sind), in der Freiheit, Gleichheit, Solidarität als selbstverständliche Prinzipien menschlicher Vergesellschaftung Existenz haben – eine Gesellschaft, deren „Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist“.54 Eine solche Gesellschaft ist vorstellbar nur als Gesellschaft kultureller Individualitäten, einer Pluralität von Kulturen, deren Verhältnis zueinander durch gegenseitige Achtung und praktische Toleranz geregelt wird. Erst eine solche Gesellschaft wäre die Gesellschaft einer voll entwickelten, im exakten Wortsinn realen Demokratie.55

Allen Vorurteilen entgegen: Kommunismus meint eine friedliche, solidarische Welt; die Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, ökonomisch, sozial, kulturell, die Überwindung also auch des patriarchischen Geschlechterverhältnisses; Befreiung von materieller Not als Bedingung kultureller Bildung; gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums als Voraussetzung für die Reichtumsentfaltung individuellen Lebens; Individualität als Kernkategorie; Erhaltung und Pflege der Natur. Im Begriff einer solchen Kultur haben auch Ideen einer religiösen Ethik, sofern diese den Postulaten von Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz, Bewahrung der Natur verpflichtet sind, ihren Ort. Atheismus ist für eine solche Gesellschaft kein Glaubensprinzip.

Der Begriff dieser Kultur bedeutet nicht, dass diese frei von Konflikten sei. Kein Missverständnis könnte größer sein. Die Idee einer konfliktfreien Gesellschaft ist schlechter Utopismus – ein romantischer Kindertraum, der mit historischer Realität nichts gemein hat. Die existentiellen Grundtatsachen menschlichen Lebens, zu denen Zeugung, Geburt, Liebe und Freude, doch auch Krankheit, Leiden und Tod gehören, sind anthropologisch unaufhebbar. Sie bilden den Grund von Krisen und Konflikten – im gleichen Maß wie sie der Grund für ein geglücktes Leben sind. Diese Konflikte freilich würden in der neuen Kultur auf eine Weise ausgetragen, die von der aller vorhergehenden Gesellschaften grundverschieden ist. Wie jede Form von Gewalt wird der Krieg wird als Mittel der Lösung von Konflikten in dieser Gesellschaft undenkbar sein, da an die Stelle der Gewalt der rationale Konsens tritt. So wenig individuelle Tragödien aus dem menschlichen Leben eliminierbar sind, den Charakter einer historischen Katastrophe werden Tragödien in dieser Gesellschaft nicht mehr besitzen.

Der Begriff einer solchen Kultur ist mehr als das „kühne Traumbild eines neuen Staates“,56 das der Idealismus als heroische Intellektuellenutopie in seinen besten Bestrebungen konstruierte. Sicher: ein solcher Begriff ist Idee und Ideal, doch ist diese Idee im materiellen Geschichtsprozess verwurzelt. Sie ist reale Möglichkeit im Wirklichen, und sie ist dies kraft einer geschichtlichen Lage, die aus der Entwicklung der Produktivkräfte im neuzeitlichen Kapitalismus resultiert. Erst diese kapitalistische Gesellschaft hat, wie Marx und Engels mit großer Klarheit erkannten,57 die Bedingungen für die neue Formation geschaffen, die ich hier als ‚neue Kultur‘ bezeichne. Erst kraft dieser Bedingungen wurde Möglichkeit, was zuvor allein ein kühnes Traumbild war. Doch hat nicht erst die bürgerliche Gesellschaft dieses Traumbild hervorgebracht. Es geht aus den Tiefen des Geschichtsprozesses hervor, wurde in den Kämpfen und Träumen der Unterdrückten aller Zeiten und Völker geboren (es ist in zahlreichen Dokumenten, meist Werken der Kunst überliefert). Nicht zuletzt ist der Begriff der neuen Kultur ein Kind der Aufklärung – verstanden als weltgeschichtlich-interkulturelles, nicht exklusiv europäisches Projekt.

4. Einheit und Differenz von menschlicher Welt und Natur. Gesamtzusammenhang als ontologischer Begriff

Der Begriff des GZ ist mit den bisherigen kategorialen Bestimmungen keineswegs vollständig erfasst. Mit großem Nachdruck hat Holz, wie eingangs gezeigt, die ontologische Bedeutung des Begriffs des GZ herausgearbeitet, ja, hat diesen explizit als ontologische Kategorie exponiert. Der Marxismus, erinnern wir, will ihm zufolge als Philosophie eine Auffassung der Welt als ganzer – von Natur und menschlicher Gesellschaft – in ihrer Entwicklung geben.58 Soll der Marxismus als Weltanschauung verteidigt oder begründet werden, so kann hinter diesen Anspruch sicher nicht zurückgefallen werden. Bezogen auf den Begriff des GZ: Der Marxismus, als Denken des GZ, schließt Natur wie das Verhältnis von menschlicher Welt und Natur in sich ein – der Begriff des GZ umfasst die Einheit von Natur und menschlicher Gesellschaft ; die menschliche Gesellschaft verstanden als Teil des umfassenden Naturganzen. In diesem Sinn ist der Begriff des GZ ein ontologischer Begriff. Er betrifft das naturhaft und menschlich-gesellschaftlich Seiende in seiner Totalität: in seinem Zusammenhang und in seinen Strukturen, und er betrifft es (dies sei hinzugefügt, obwohl es hier nicht ausgeführt werden kann) in seiner inhärenten prozessual-dialektischen Verfasstheit: als Dialektik des Geschichtsprozesses und als Dialektik der Natur ; Geschichte dabei verstanden als übergeordneter Begriff (nicht nur die menschliche Gesellschaft, auch die Natur ‚hat Geschichte‘: ist prozessual verfasst, Entwicklungen unterworfen). Er betrifft es weiter (im holzschen Sinn) als Widerspiegelungssystem.

Erst ein solcher Begriff des GZ begründet die fundamentale Diesseitigkeit des Marxismus; er begründet diese in einem ontologischen Sinn. Er legt damit das Fundament des Marxismus als philosophischer Weltanschauung – begründet den Materialismus als dialektisch-historischen; setzt ihn in Kontrast zu jedem Idealismus wie zu jedem Denken jenseitiger Welt, ganz gleich welcher Spielart, bestimmt seine Differenz zu allen Formen religiösen Bewusstseins. Seine ontologische Basisprämisse lautet: Das Sein, von dem wir philosophisch- wissenschaftlich reden und allein reden können, ist der uns in Praxis und Theorie zugängliche natürlichen Kosmos und die menschlich-gesellschaftliche Welt als einem Teil von ihm. Es ist dieses ‚Sein‘, in dem wir erkennend und handelnd tätig sind: die Welt als Gesamtheit werdend-gewordener Tatsachen. So kann auch jede Sinnsetzung nur unter Bezugnahme auf die Diesseitigkeit menschlichen Seins und als Handeln des Menschen – als menschliche Sinnstiftung – erfolgen. Menschliche Welt und Geschichte ist Teil der Naturgeschichte – eine Stufe der Evolution, die freilich, in Differenz zur Geschichte allen anderen uns bekannten Seins, durch bewusste Lebenstätigkeit (Marx): zwecksetzendes menschliches Handeln (‚teleologische Setzung‘, wie Lukács sagt) bestimmt, zumindest mitbestimmt ist. Menschliche Geschichte ist so gesehen eine Naturgeschichte ‚zweiten Grades‘; Bewusstsein, als Ergebnis evolutionärer Prozesse, wird mit menschlichem Sein zum Moment der Weiterentwicklung der Naturgeschichte bis hin zur hochtechnologischen Zivilisation der Gegenwart, die alle Formen der Naturähnlichkeit abgestreift hat und sich den Schein gibt, das ‚ganz Andere‘ gegenüber der Natur zu sein. Demgegenüber hält materialistisch-dialektischen Denken an der – im ontologischen Sinn – ‚Naturhaftigkeit‘ menschlichen Seins in allen seinen Stufen fest. Das Verhältnis von menschlicher Welt und natürlicher Welt ist ein solches der Einheit in der Differenz.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang, dass die Grundlage allen Materialismus seit der frühgriechischen Naturphilosophie die Auffassung einer vom menschlichen Denken und Handeln unabhängigen, gesetzmäßig verfassten Wirklichkeit ist (‚Kosmos‘, ‚Physis‘, ‚Natur‘), der der Mensch als ihr Teil untrennbar angehört. Dem naturhaften, in diesem Sinn materiellen Sein kommt dabei, im Verhältnis zum ‚geistigen Sein‘ (Logos, Bewusstsein) ein genetisches und logisches Primat zu; so zwar, dass das materielle Sein das Umgreifende ist, das das geistige Sein (Bewusstsein) in sich einschließt. Bewusstsein ist Produkt und damit Modus des Materiellen und so gegenüber diesem sekundär, wobei hier freilich mit Engels das „Gesetz“ des „Umschlags von Quantität in Qualität“59 zur Geltung kommt: die Qualität von Bewusstsein ist von jeder anderen uns bekannten Seinsqualität unterschieden. Materialismus ist also die Position, die in Materie oder Natur das im ontologischen Sinn Erste und Ursprüngliche anerkennt; menschliche Welt – Geschichte, Gesellschaft, Individualität – partizipiert an der umfassenden Naturwirklichkeit: „this tangible planet which is our habitat“.60 „Stephen Dedalus / Class of Elements / Clongowes Wood College / Sallins / County Kildare / Ireland / Europe / The World / The Universe“, so lautet nach James Joyce die ontologische Adresse des Menschen.61

Menschliche Geschichte und in ihr der Prozess der Kultur ist so verstanden ein Vorgang in der Natur und, wie immer vermittelt, im Rahmen ihrer Gesetze. Der Gedanke des Aristoteles, dass sich alles menschliche Herstellen, mithin der gesamte Prozess der Zivilisation innerhalb der Natur vollzieht – alles menschliche Herstellen, sagt er, bilde entweder „die Gebilde der Natur nach“ oder bringt sie „zu einem Abschluss“, „wo sie die Natur nicht selbst zu einem Abschluss zu bringen vermag“62 – ist hier voll in sein Recht einzusetzen. In einem solchen Geist ist auch Engels’ weitreichende (in ihrer Tragweite kaum erkannte) Feststellung zu verstehen, dass „wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können“.63 Die „wirkliche menschliche Freiheit“, so der Anti-Dühring, ist die „Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen“.64

Erweiternde Überlegung III: Zu einem dialektischen Begriff der Kultur65

Von dieser Einsicht her wächst auch dem marxistischen Kulturbegriff eine besondere Bedeutung zu. Grundlegend für ihn ist, Kultur als menschliches Naturverhältnis zu denken – in allen ihren Formen als vermittelten Zusammenhang mit ihr.

Bereits die ursprüngliche Wortbedeutung des lateinischen cultura hält fest, dass es sich bei dem mit dem Wort Bezeichneten ein Naturverhältnis handelt, das Veränderung, Veredelung, auch Pflege und Bewahrung von Natur einschließt. Cultura heißt: Bearbeitung, Anbau, Ackerbau, Anpflanzung, Ausbildung, auch Ehrung und Verehrung, mit einem Bedeutungsfeld, das bis zu Kult und Religion reicht; festgehalten auch in den angeschlossenen metaphorischen Wendungen wie animi culti, cultura animi, tempora cultior, cultus literarum (mit diesen Bedeutungen ist der Kulturbegriff in den europäischen Humanismus eingegangen). An diesem Bedeutungsfeld ist durchaus im Sinne einer Grundorientierung festzuhalten. Es liefert Kriterien für kulturelle Wertung wie kulturelles Handeln. Es erinnert, dass der kulturelle Prozess – die Bildung des homo humanus und seiner Welt – nicht die Konstruktion eines total Neuen und ‚ganz Anderen‘ sein kann, sondern die Veränderung, Entwicklung und Formung eines von Natur aus Gegebenen – dass kulturelle Bildung unumkehrbar auf Natur bezogen ist. In Marx’ Formel der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen (Ökonomisch-philosophische Manuskripte) wird dieser Gedanke aufgenommen.

Grundlage des marxistischen Kulturbegriffs (und hier unterscheidet sich dieser sich von allen anderen Begriffen zur Kultur vor und nach ihm) ist die folgende Auffassung. Der Mensch, wie er als Produkt eines evolutionären Prozesses in die Welt tritt, ist in seinem Wesen unfertig. Was wir ‚menschliches Wesen‘ oder ‚menschliche Natur‘ nennen, ist zunächst lediglich als Latenz vorhanden: als ein mit dem Naturwesen Mensch gegebenes entwicklungsfähiges Potential: ein Vermögens- und Möglichkeitsfundus, der Bedingung kultureller Bildung – mit ihr der Bildung der menschlichen Natur ist.66 Das bedeutet, der homo sapiens stellt sich im Prozess der Kultur (mit Norbert Elias ließe sich hier auch vom ‚Prozess der Zivilisation‘ sprechen) als menschliches Wesen erst her. Er bildet seine als Latenz angelegte menschliche Natur aus, und er tut dies kraft seines gegenständlichen Handelns, als bewusstes Naturwesen; durch die Summe seiner Tätigkeiten, in deren Kern die menschliche Arbeit steht. Er tut dies durch Transformation von Natur : der natürlichen Welt, in der er als dieses mit Bewusstsein ausgestattetes Naturwesen handelt, und er tut dies durch die Produktion einer ‚zweiten Welt‘ innerhalb der ‚ersten Welt‘, in der er sich vorfindet. Er tut dies durch die Produktion von Kultur als menschlicher Welt.67 In diesem Prozess – es ist logisch gesprochen der Vorgang einer Subjekt-Objekt-Dialektik – bildet er sein ‚menschliches Wesen‘ aus. Dieses ist also Resultat, geschichtliches Resultat, und es ist immer offen, nie abgeschlossen, so wenig wie der Geschichtsprozess jemals abgeschlossen ist. Es ist also konkret-historisch, und auch nur historisch zu fassen. Es ist in diesem Sinn „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ wie Marx sich in den Feuerbach-Thesen. ausdrückt. Es ist dies, in der Essenz, eine Grundeinsicht, die der frühe Marx seiner kritischen Lektüre der Hegelschen Phänomenologie des Geistes entnahm.

So schafft der Mensch durch Transformation von Natur Kultur als spezifisch menschliche Welt; ein Prozess, der gleichwohl im Rahmen des Naturhaften verbleibt. Menschliche Welt ist kulturelle Konstitution (Konstitution einer spezifisch menschlichen Welt) innerhalb einer natürlichen Umwelt. So sehr sich menschliche Welt dabei von jedem ursprünglich Gegebenen differenziert, nie vermag sie sich gegründet und dauerhaft jenseits oder außerhalb der natürlichen Wirklichkeit, die ihr Grund ist, einzurichten. Wo sie dies tut oder zu tun versucht, tut sie es zum Preis der Selbstzerstörung; die ökologische Krise der Gegenwart legt ein bedrohliches Zeugnis dafür ab.

Menschliche Geschichte ist also Teil der allgemeinen Naturgeschichte, menschliche Welt ein Sich-Einformen in ein umgreifendes Naturganzes. So verstanden bezeichnet der Kulturbegriff ein je bestimmtes, historisch- gesellschaftlich und individuell unterschiedenes menschliches Naturverhältnis, das Naturverhältnis damit auch einer je bestimmten geschichtlichen Formation. Die Unterscheidung zur Natur kann nie eine andere sein als ein Gegenteil in der Identität.

5. Wirklichkeit als das Seiende im Ganzen und die Frage nach Grund und Sinn von Sein: der Gesamtzusammenhang als metaphysischer Begriff. Die Aufhebung der Metaphysik in Dialektik

Der GZ im Sinne traditioneller Philosophie bezieht sich auf die Wirklichkeit als die ‚Gesamtheit des Seienden‘ – alles, was ‚ist‘ –, auf das Sein des Seienden, dessen ‚Grund‘ und ‚Sinn‘. Die Disziplin, die sich mit solchen Fragen befasst, trägt seit Aristoteles den Namen ,Metaphysik‘. Warum überhaupt Seiendes ist „und nicht vielmehr nichts“ ist nach Heidegger die „Grundfrage“ der Metaphysik und die „erste aller Fragen“ (Einführung in die Metaphysik). Sie ist in der Tat die Grundfrage der ‚prima philosophia‘, wie die Metaphysik traditionell genannt wird. Aristoteles nennt sie „die Wissenschaft von den ersten Prinzipien und Ursachen“.68 Entsprechend wird sie lexikalisch als „Lehre von den letzten Gründen des Seins, seinem Wesen und Sinn“ definiert.69 „Dass ich erkenne, was die Welt/Im Innersten zusammenhält“ – Goethes Faust hat der metaphysischen Frage eine sehr prägnante Form gegeben.

Der ‚Grund‘ und ‚Sinn‘ von Sein in traditioneller Philosophie heißt in der Regel ‚Gott‘, wobei das Wort ‚Gott‘ sehr Unterschiedliches bedeuten kann: der ‚erste selbst unbewegte Beweger‘ des Aristoteles, der persönliche Gott christlichen Denkens, Gott als Logos des Thomas von Aquin, der rein logische Gott des ontologischen Gottesbeweises, Gott als natura naturans (Spinoza): schöpferische Kraft in der Natur, die Goethe als ‚göttlich-schön‘ begriff, Gott als Postulat der praktischen Vernunft bei Kant, Gott als Weltgeist und Weltkonstrukteur bei Hegel, als ‚Transzendenz‘ in bestimmten Linien existentialistischen Denkens, als ‚Gott über Gott‘ bei Paul Tillich – und vieles mehr. In jedem Fall, so oder so, der Gott der Philosophen ist der metaphysische Gott.

Marxistisches Denken versteht sich als Denken ‚nach der Metaphysik‘ – wie es sich als ‚Denken nach der Theologie‘ versteht. Der ‚neue Materialismus‘, als den Marx sein Denken in den Feuerbach-Thesen konzipiert, ist ein Denktypus ohne metaphysico-theologischen Restbestand, und sofern er noch ‚Philosophie‘ ist, so eine Form derselben, die sich von den traditionellen Formen der Philosophie fundamental unterscheidet. Der wesentliche Unterschied liegt nicht allein in der Differenz zu den überkommenen Gestalten metaphysisch-theologischen Denkens, sondern in Differenz zum Idealismus jeglicher, auch der neueren und neuesten Spielarten (kantianisch, nietzscheanisch, existentialphilosophisch, analytisch, konstruktivistisch, neurowissenschaftlich, postmodern – wie immer) – d. h. zu jedem Denken, das ‚Bewusstsein‘, ‚Geist‘, Vernunft, ‚Sprache‘, ‚neuronale Tätigkeit‘, oder ‚Wille‘ als Erstes setzt, ‚Materie/Natur‘ als Zweites. War die Metaphysik in der Geschichte der Philosophie eine Domäne des Idealismus – „the playground of idealism“, hat sie Bertrand Russell einmal spöttisch genannt –, so tritt dieser heute dominant in nichtmetaphysischen, oft programmatisch antimetaphysischen Formen auf, nicht zuletzt auch im Mantel positiver Wissenschaft. Marxistisches Denken nun hat sich mit der Verabschiedung von Metaphysik und Theologie auch vom Idealismus jeglicher Spielart verabschiedet, ja seine theoretische Integrität besteht nicht zuletzt in seiner prinzipiellen Differenz zu diesem in jeder seiner Gestalten.

Dies bedeutet zum einen, dass der Marxismus nur als kritische Wissenschaft Existenz haben kann: als Kritik von Metaphysik, Theologie, Idealismus. Er ist so auch nicht nur als Kritik der politischen Ökonomie, sondern zugleich als Kritik der Ideologie begründet worden, und er wird die Arbeit der Kritik in diesem doppelten Sinn immer zu leisten haben – immer neu mit den Veränderungen der historischen Lage. Ideologie aber im Verständnis der marxistischen Klassiker ist, wie eingangs bereits angedeutet, mehr als nur ‚falsches Bewusstsein‘ (‚falsch‘ im Sinne von unwahr, trügerisch) oder Form entfremdeter Vergesellschaftung (Haug).70 Sie ist – in ihren komplexen Gestalten zumindest – deformiertes, d. h. ver-kehrtes (auf dem Kopf stehendes) Bewusstsein, dem Wahrheit keineswegs abgeht. Ideologie ist ‚verkehrte Wahrheit‘ (Amlinger 2014), die freilich erst durch die ‚Um-Kehrung‘ – oder sagen wir besser: die kritische Aneignung – des ideologischen Bewusstseins zu gewinnen ist. ‚Wahrheit‘ ist dem ideologischen Bewusstsein also erst abzuringen; klassische Beispiele dafür sind die Marxschen Kritiken der Hegelschen Philosophie und der Religion. Die Kritik ist, im Marxschen Sinn, immer als dialektische zu betreiben. Für die Kritik von Metaphysik und Religion bedeutet dies: Diese sind aufzudecken im Verkehrten und Verkehrenden ihrer Bewusstseinsinhalte wie im Unterwerfenden ihrer institutionalisierten Formen (dies gilt insbesondere für die institutionalisierten Formen der Religion): in ihrer Herrschaftskonformität und Funktionsweise im Sinne einer entfremdenden Vergesellschaftung. Die Kritik hat aber auch, und dies erst qualifiziert sie als dialektische, die gegenläufigen Momente in Metaphysik und Religion freizulegen: die in ihnen artikulierte Erfahrung wie die Fragen, die aus solcher Erfahrung erwachsen – sofern sie Erfahrungen und Fragen realer Lebenspraxis sind. Mit anderen Worten: Metaphysik und Religion sind nicht nur als Erscheinungen der Ideologie, sie sind auch als solche der Kultur zu behandeln; als Ausdruck und Form selbstbestimmter Lebensgestaltung (wie rudimentär auch immer das Moment der Selbstbestimmung sein mag): eines sinnhaften Sich-Einrichtens in der Welt, als Lösungen nicht zuletzt für Probleme, die sich im Zusammenhang der Lebenspraxis ergeben.

So wurde und wird in der marxistischen Kritik der Metaphysik meist (fast immer) außer Acht gelassen, dass mit ihrer theologischen oder idealistischen Form die Fragen der Metaphysik als Fragen nicht aus der Welt sind. So stellt sich die Frage nach dem Grund und Sinn – dem Sinn von Sein, dem ‚Sinn des Lebens‘ zumal, individuell wie kollektiv und geschichtlich – unausweichlich in bestimmten Lebenslagen, die mit existentiellen Grunderfahrungen (Geburt, Tod, Leid, Liebe, Freude) zu tun haben.71 Metaphysische Fragen sind in einem bestimmten Sinn unabweisbar. Mit der Reife, dem Selbstbewusstsein und der Selbstbestimmtheit einer Gesellschaft werden sie, so ist zumindest zu vermuten, zunehmen, nicht abnehmen, da die Sensibilität der Menschen für solche Fragen zunehmen wird. Will der Marxismus diese Fragen nicht der Religion überlassen – also hier vor dem religiösen Bewusstsein abdanken (und damit die Theologie theoretisch sanktionieren) –, will er sich im vollen Umfang als diesseitige Weltanschauung konstituieren, wird er sich ihnen stellen müssen. Er wird sie in seiner Sprache, eben materialistisch stellen müssen, und er wird sie materialistisch zu beantworten haben. – Angemerkt sei, dass diese Fragen, anders als in der Philosophie, in der sozialistischen Kunst seit langem zuhause sind. Auch in den Künsten der sozialistischen Länder – in Literatur, bildende Kunst, Musik – wurden sie artikuliert –, so wenig sie von der offiziellen Ideologie aufgenommen wurden. Sie werden sich erneut stellen, wann immer der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft neu auf der historischen Tagesordnung steht. Die metaphysische Frage bildet die höchste, zugleich auch abstrakteste Stufe im kategorialen Aufbau des GZ. Von allen marxistischen Philosophinnen und Philosophen der Gegenwart hat Holz, dies nicht zuletzt zeigt die Kühnheit seines Denkens, dem Problem der Metaphysik wie auch ihrer Geschichte die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Was ihn dabei von anderer marxistischen Philosophie unterscheidet, ist, dass er die Metaphysik nicht einfach als durch den marxschen Materialismus erledigt betrachtet, sondern sich der metaphysischen Frage stellt. Er behandelt sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Aufhebung – der „Aufhebung der Metaphysik in Dialektik“;72 ein Versuch der Rehabilitation metaphysischer Fragen auf materialistischer Grundlage, im Rahmen eines Philosophietypus, der erst mit und nach Marx möglich wurde. Die Diskussion darüber, die Darstellung und Bewertung dieses Versuchs hat kaum begonnen. Die vorliegenden kritischen Äußerungen dazu, die ich kenne, haben auch nicht im Ansatz den Umfang des Problems erfasst.73 Die Auseinandersetzung mit Holz’ Versuch hätte die Schlüsselbegriffe seines Denkens: GZ, Dialektik und Widerspiegelung im vollen Umfang einzubeziehen. Es sind dies die Begriffe, mit denen Holz die Frage nach der Verfasstheit des Wirklichen, seinen Bauformen, Bauprinzipien und Gesetzen, schließlich die nach dem Grund und Sinn von Sein, also die metaphysische Frage, auf eine bestimmte Weise beantwortet.

Eine kritische Untersuchung dieser Antwort ist im Rahmen dieses Textes nicht möglich; lediglich erste Gedanken dazu seien notiert. Es sind Folgerungen, die sich aus dem Prinzip der Aufhebung der Metaphysik in Dialektik in meiner Sicht ergeben; Folgerung von nicht nur theoretischer Relevanz gerade auch in einigen aktuellen Fragen, mit denen der Marxismus heute befasst ist.

  1. Die Aufhebung der Metaphysik in Dialektik hat zur Folge, dass keine unveränderlichen Substanzen mehr als ‚Grund‘ des Seins angenommen werden können, mithin auch keine geschichtslosen Wesenheiten oder ‚erste Prinzipien‘, geschweige denn ein ‚Gott‘, der den Sinn von Sein und den Gesamtzusammenhang des Seienden garantiert; ganz gleich, wie solche Gründe, Wesenheiten oder Prinzipien gedacht werden. Sofern es Substanzen im Aufbau des Wirklichen gibt, sind diese als prozesshaft, als werdend-gewordene, also der Bewegung unterworfen und veränderlich zu denken. Dialektik, wie immer im Einzelnen gedacht, ist Bewegung, Entwicklung, Prozess – bereits die „Hauptgesetze der Dialektik“, die Engels in der Planskizze zur Dialektik der Natur im Umriss skizziert, weisen darauf hin: „Umschlag von Quantität in Qualität – Gegenseitiges Durchdringen der polaren Gegensätze und Ineinander-Umschlagen, wenn auf die Spitze getrieben – Entwicklung durch den Widerspruch oder Negation der Negation – Spirale Form der Entwicklung“.74 Jede Substantialität eines Ursprungs wie jede Gegenständlichkeit im Einzelnen wird dialektisch in Prozess und Bewegung aufgelöst oder in prozessuale Zusammenhänge eingegliedert. Diese Einsicht trifft kritisch auch den scheinbar radikalen Weltbegriff Wittgensteins und der von ihm begründeten Linie des Positivismus – Welt als „Gesamtheit der Tatsachen“ (Tractatus Logico-Philosophicus) – als dem Ersten, mit dem er seine Philosophie beginnt.

  2. Mit der Aufhebung der Metaphysik in Dialektik ist so jedem Reden über ‚Gott‘ philosophisch irreversibel der Grund entzogen. Die Philosophie verabschiedet jeden theologischen Restbestand, wie er noch in den idealistischen Systemen der klassischen deutschen Philosophie und bei seinen Nachfolgern vorliegt. Das Denken des Ganzen als dialektisches übt Verzicht auf jeden substantiellen ersten Grund. An dessen Stelle tritt der Gesamtzusammenhang als unendlicher Prozess, der allein in Form einer Konstruktion philosophisch fassbar ist. Das bedeutet aber auch: Ein solches Denken ist Konstruktion innerhalb bestimmter Grenzen des Erkennens, die sowohl von der historischen Perspektive des Erkennenden wie auch von der Verfasstheit unseres Denkapparats abhängig sind. Hier kommt ins Spiel, was ich oben das ‚Relativitätsprinzip des Erkennens‘ nannte. Diesem zufolge ist jede gegebene Wahrheit geschichtlich bedingt, deshalb relativ: perspektivisch bezogen auf den Standort, von dem aus ihre Formulierung erfolgt. Zwar gibt es einen Prozess fortschreitender Erkenntnis, der Zunahme menschlichen Wissens, doch ist dieser unendlich und unabschließbar, weil gebunden an den historischen Prozess. Jede gegebene Erkenntnis vermag daher auch nur einen Teil des Gesamtprozesses zu reflektieren. Ein ‚absolutes Wissen‘ gibt es in diesem Denkzusammenhang so wenig, wie es einen ersten Grund gibt. Wird innerhalb eines solchen Denkens die Frage nach ‚ersten Gründen‘ gestellt, so nur im Rahmen der empirisch erforschbaren elementaren Bauprinzipien des Universums, die nie im metaphysischen Sinn als ‚erste Prinzipien‘ gelten können. Das Fragen nach ihnen hat den Charakter eines infiniten Regresses. Die Ontologie tritt an die Stelle der Metaphysik. – Solche Problemstellung geht, das sei angemerkt, auf die atomistische Linie antiken Denkens (Demokrit, Epikur, Lukrez) zurück.75

  3. Die Fragen der Metaphysik, pointiert gesprochen, finden ihre Antwort letztlich im Konzept gegenständlicher Tätigkeit als dem Ersten, vom dem das Denken des marxschen Materialismus und damit auch die materialistische Dialektik ausgeht.76 So wird auch die Frage nach dem ‚Sinn‘ (als ‚Bedeutung‘, die das Seiende im ganzen oder ein Teil von ihm für Menschen hat oder haben kann) materialistisch nur so zu beantworten sein, dass es ein ‚Sinn von Sein‘ an sich, d. h. menschenunabhängig nicht gibt und geben kann. Das Universum ist gesetzmäßig verfasst, es besitzt Struktur und Zusammenhang, doch besitzt es keinen ‚Sinn‘, der etwa die Sinnhaftigkeit des Ganzen garantieren könnte. Ein solcher Sinn wäre nur als göttliche Setzung denkbar, er setzt ein substantiell Gegebenes voraus, das dem Gesamtzusammenhang des Seienden im metaphysischen Sinn unterliegt. ‚Sinn‘, materialistisch gesehen, existiert allein als menschliche Setzung – wie auch der ‚Sinn des Lebens‘ allein als menschliche Setzung existiert.77 Sinn ist Menschenwerk. Wir selbst, kein Gott, geben dem Sein einen Sinn – wie auch nur wir selbst dem Sein oder einem Teil von ihm Sinn absprechen können (es ist dies die Kerndimension des modernen Nihilismus). Sinn also ist menschliche Konstitution, Sinngebung ein kultureller Akt, an dem ein Komplex von Instanzen beteiligt ist.78

  4. Ist mit der Aufhebung der Metaphysik in Dialektik jede Rede über Gott philosophisch verabschiedet, so gilt dies in dem doppelten Sinn: eine solche Philosophie kann weder ‚theistisch‘ noch kann sie ‚atheistisch‘ sein. Innerhalb ihres Diskurses hat der Begriff des ‚wissenschaftlichen Atheismus‘ logisch keinen Sinn. Er ist so unsinnig wie es der Begriff des ‚wissenschaftlichen Theismus‘ wäre. Dies aber hat Konsequenzen für die sehr praktische und heute höchst aktuelle Frage des Verhältnisses des Marxismus zur Religion. Ihm sei eine abschließende Überlegung gewidmet.

Erweiternde Überlegung IV: Marxismus und Religion

Der Marxismus geht traditionell davon aus, dass die Religion mit der Errichtung einer nichtentfremdeten Gesellschaft absterben wird. Die Religion, heißt es bei Marx, sei ‚positiv aufzuheben‘79 – ihre Wahrheit ist in eine humanistische, diesseitig orientierte Weltanschauung zu überführen. Das Absterben der Religion ist eine sachliche Prognose, kein atheistischer Glaubenssatz. Als philosophische Weltanschauung kennt der Marxismus keine ‚Glaubenssätze‘ – auch keine atheistischen. Wie es mit dem religiösen Bewusstsein steht, wird eine zukünftige Gesellschaft ohne Zwang selbst entscheiden. Pluralität des Bewusstseins ist für diese Gesellschaft nicht nur vorstellbar, sondern notwendig und wünschenswert. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass eine zukünftige Gesellschaft auch in den profanen Gestalten ihres Bewusstseins bestimmte Funktionen, die die Religion traditionell ausübt, zu ersetzen haben wird. Sie wird dafür Formen finden müssen, so ist zu vermuten, die man profane Rituale nennen kann. Dabei handelt es sich um die kulturelle Bearbeitung existentieller Grunderfahrungen, die ich oben kurz ansprach, deren historischen Gestalten wechseln, die als Grundtatsachen menschlicher Existenz unhintergehbar mit dem menschlichen Leben, wie wir es kennen, verbunden sind. So stellt sich auch dem profanen Bewusstsein das Problem der Transzendenz im Sinne eines Sinnhorizonts, der das begrenzte individuelle Leben wie auch die Individualität einer bestimmten geschichtlichen Stufe überschreitet, die Individualitäten in größere Zusammenhänge – die einer Gruppe, eines Kollektivs, einer Gesellschaft, schließlich der Gattung – einordnet; in Zusammenhänge, die das Ganze individuellen, kollektiven, geschichtlichen und kosmischen Seins betreffen. Die Frage nach dem Sinn ist, so oder so, ein Stachel im Fleisch der Lebenden.

Die zentrale Artikulationsform solcher Erfahrungen und Bedürfnisse in der nichtentfremdeten Gesellschaft ist die Kunst – dies zumindest ist eine begründete Vermutung. Denn in der Fähigkeit des Kunstästhetischen zur Synthesis geistiger Kräfte, in der Eigenschaft, Bild und Begriff, Anschauung und Theorie zu verbinden, besitzen die Künste das Vermögen zur Artikulation dieser Erfahrungen. Sie sind es neben der Philosophie und über diese hinaus, wobei denkbar ist, dass die Philosophie selbst Denkformen entwickelt, die das Kunstästhetische einschließen. So gibt es von der Seite der Künste her durchaus Modelle für den Einschluss des Philosophischen in die ästhetische Form: so bereits in der griechischen Tragödie, in entwickelter Gestalt bei Dante, Shakespeare und Goethe. Für die Moderne wären Brecht, Thomas Mann, Neruda und Weiss als hervorragende Beispiele zu nennen. Sicher scheint mir zu sein, dass in einer profanen Gesellschaft allein die Kunst die doppelte Rolle zu übernehmen vermag, die in den traditionellen Gesellschaften die Religion bzw. quasireligiöse Ideologien auszuüben pflegen: die Herstellung psychischer und ideeller Akzeptanz der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse (bei aller Widersprüchlichkeit, die diesem Vorgang innewohnt), zugleich aber auch die der Konstitution von Lebenssinn – Aufgaben, die in einer nichtentfremdeten Gesellschaft keineswegs wegfallen. In dieser werden Bewusstseinsformen – ich spreche von kulturellen Bewusstseinsformen – zu finden sein, die diese Aufgaben übernehmen können. Individuen werden immer in eine gegebene Gesellschaft einzugliedern sein, gerade auch als kritische und bewusste. Und zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehört das Verlangen, in einer als sinnhaft erfahrenen Welt zu leben, in der die Stufen individueller Biographie – Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter, Tod – einen identifizierbaren Ort besitzen, Teile eines Ganzen sind, in dem auch die Extreme individueller Erfahrung Bewältigung finden können. – Wie die zu entwickelnden kulturellen Formen aussehen, ist im Einzelnen nicht zu prognostizieren. Zu denken ist an die Ausarbeitung einer profanen Ikonographie des Erfahrungsraums menschlichen Lebens, an die Entwicklung ‚diesseitig‘ ausgerichteter Rituale und Formen des Fests, in denen, als Beispiel, Glückserfahrungen zelebriert, Leidenserfahrungen bewältigt werden können. Zu denken ist weiter an die Ausarbeitung popularer Bewusstseinsformen, die komplexes theoretisches Wissen verstehbar und einsichtig machen – die Produktion von ‚Mythen der Vernunft‘, in denen Anschauung und Begriff in jedem verständlicher Form zusammentreten, „Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen“, „das Volk vernünftig“ und „die Philosophie (…) sinnlich“ wird,80 die Kluft zwischen Wissenschaft und Alltagsbewusstsein, Intellektuellen‘ und ‚Volk‘ sich schließt.

Von der Sache her ist es höchst zweifelhaft, ob ein prinzipieller Atheismus notwendig zum Marxismus gehört. Theismus wie Atheismus bewegen sich auf einer Diskursebene, die jenseits der wissenschaftlichen Wissens liegt – auf der theologischen Denkens, seit Kant nicht einmal mehr auf der der Metaphysik. Auf der Ebene wissenschaftlichen Wissens aber, keiner anderen, ist der Marxismus angesiedelt. Wenn der Marxismus religionsförmig wird, deformiert er sich zur Ideologie. Er bleibt, wie ausgeführt, als philosophisch begründetes wissenschaftliches Wissen an die Grenzen gebunden, die solchem Wissen gesetzt sind. Es gibt wissenschaftlich kein absolutes Wissen, sondern nur relatives, relativ, weil notwendig bezogen auf die Perspektivik einer historischen Erkenntnissituation. So gesehen okkupiert der Marxismus nicht die Ebene des religiösen Glaubens und seine Erfahrungen. Solange es Menschen gibt, die sich auf solche Erfahrungen berufen, werden diese zu respektieren sein. Jeden Anschein von Religionsförmigkeit, jede Vermengung von Wissen und Glauben hat der Marxismus zu vermeiden, will er sich konsequent als wissenschaftliche Weltanschauung konstituieren – und nur so wird er theoretisch wie praktisch eine Zukunft haben. Der Atheismus ist im gleichen Maß ‚Glaubenssache‘ – ‚negativer‘ Glaube – wie es der Theismus als ‚positiver‘ Glaube ist.

Wenn Metaphysik tatsächlich in Dialektik aufgehoben wird, gibt es keinen Ort mehr weder für einen Gott noch einen Nicht-Gott. Aus der Perspektive materialistischer Dialektik ist jeder Theismus metaphysisches Pfaffentum – wie es aber auch jeder Atheismus ist, ist er doch die Kehrseite der gleichen Münze. Eine solche Auffassung kann sich auf Wolfgang Abendroth berufen. So sprach dieser bereits in den zwanziger Jahren von den „Pfaffen des Atheismus“, die „ihr Anathema gegen alle Ungläubigen des Unglaubens schleudern“ und dadurch die christlichen Arbeiter „auf die andere Seite der Barrikade zurückdrängen“.81

Erinnert sei, dass bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der hierzulande fast unbekannte irische Marxist James Connolly publizistisch und politisch offensiv sehr ähnliche Auffassungen vertrat;82 heute lassen sie sich im Denken Fidel Castros wiederfinden.83

Die strikte Unterscheidung zwischen Wissen und Glaube sollte für den Marxismus verbindlich werden. Mit dieser Unterscheidung wird nicht nur der Bereich theoretischen Wissens von jedem Restbestand an metaphysisch- theologischem Plunder befreit, den es in mancherlei Gestalt noch mit sich herumträgt, auch der Glaube wird frei als Erfahrungsform und Haltung eigenen Rechts; als eine solche, die auf fundamentalen ethisch-existentiellen Überzeugungen beruht, die nicht notwendig wissenschaftlich fundiert sein müssen. Die Legitimität solcher Überzeugungen kann auch auf anderer Grundlage beruhen. In einem bemerkenswerten Beitrag zur Erneuerung marxistischer Religionskritik plädiert Jan Rehmann dafür, „zwischen der Form des Religiösen und den darin gebundenen Glaubensgehalten zu unterscheiden“. Der Glaubensbegriff, argumentiert er, verweist „auf eine Sozialethik zuverlässiger Beziehungen, insbesondere auf den Komplex Vertrauen, Treue, Wahrhaftigkeit, die bindende Verpflichtung des Vereinbarten u. ä.“, die nicht notwendig an Religion gebunden ist. Der Glaube tritt vielmehr „als Dimension sowohl in religiösen als auch in nicht-religiösen Formen auf. Indem er die unterschiedlichen ‚weltanschaulichen‘ Bereiche sozusagen ‚quer‘ durchzieht, ist er auch geeignet, sie miteinander zu vermitteln. Die Glaubensdimension kann damit zum gemeinsamen Bezugspunkt christlich-marxistischer Debatten und zur Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen religiösen und nicht-religiösen Emanzipationsbewegungen werden“.84

Gegenstand marxistischer Religionskritik kann also nicht der religiöse Glaube sein, es ist die Religion als ideologische Macht, und es sind religiöse Ideologien; vor allem die Kirchen als Institutionen, die nach ihren Inhalten wie nach ihrer Praxis zu beurteilen sind. Der Raum für ‚kommunistische Christinnen und Christen‘ (wie für die Angehörigen anderer Religionen, die politisch progressive Auffassungen vertreten), für eine ,Theologie der Befreiung‘, einen religiösen Sozialismus, für jeden Glauben, der die sozialistisch/kommunistische Zielsetzung bejaht, muss seitens des Marxismus wie seiner Organisationen ohne Vorbehalt offen sein; von der Sache her sind hier die alten Vorurteile abzubauen. Entscheidend ist, dass solche Menschen das wissenschaftliche Wissen im Umfang seiner Geltung akzeptieren und das aus wissenschaftlicher Theorie folgende politische Handeln mittragen. Auch hier ist wieder die Praxis das entscheidende Kriterium.

Allzu schnell wird bei den scholastischen Querelen über wissenschaftlichen Atheismus vergessen, wer der Hauptfeind ist. Es ist, wie Abendroth als „zorniger alter Mann“ 1979 formulierte, „der Monopolkapitalismus, der erst die Schande des Kolonialismus und seiner zynischen Verbrechen, dann die Barbarei zweier Weltkriege und in der Verzweiflungssituation der großen Krise nach 1929 die auch in ihrer Zielsetzung totale Inhumanität des deutschen Faschismus geschaffen hat“. Wenn wir den Hauptfeind schlagen wollen, so Abendroth, und wir müssen es, „bevor er in schlimmen inneren Widersprüchen noch furchtbarere Katastrophen für die Menschheit bewirken kann“, „dann“, so Friedrich-Martin Balzer weiter in einem klugen Kommentar, „müssen wir allem Sektierertum eine Absage erteilen und religiös gebundene Menschen, wenn sie den Klassenkampf von unten mit dem Ziel der Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte mitkämpfen und sich gegen Krieg und Kriegsgefahren stellen, als das ansehen, was sie sind: nicht bestenfalls nützliche Idioten, sondern gleichberechtigte Partner im Kampf für die beste Sache der Welt“.85

Endnoten

1 Als aktuelles Beispiel solcher innermarxistischer Differenzen verweise ich auf den Rezensionsartikel „Definitiv unphilosophisch“ von Andreas Hüllinghorst über Georg Fülberths Buch Marxismus in Aufhebung 6/2015, S. 94–116.

2 Ich verweise hier auf einen Gesichtspunkt, durch dessen Befolgung manches Missverständnis und viel unnötiger Streit in theoretischen Diskursen, auch in marxistischen, vermieden werden könnte. So schlage ich vor (in Erinnerung an das alte Universalienproblem), zwischen Begriffsrealismus und Begriffsnominalismus zu unterscheiden. Begriffsrealistisch ist die Auffassung, dass mit einem bestimmten Terminus (einer begrifflichen Bezeichnung) ein festgelegter Sinn (eine Sinnsubstanz) verbunden ist; so etwa mit dem Wort ‚Ontologie‘ der Sinn Metaphysik als prima philosophia. Begriffsnominalistisch ist die gegenteilige Auffassung: dass ein theoretischer Terminus nicht mehr ist als eine Bezeichnung, die unterschiedliche begriffliche Bedeutungen haben kann (die mit nicht mehr als einer Familienähnlichkeit verbunden sind). So kann ‚Ontologie‘ Metaphysik als prima philosophia bedeuten, doch auch das genaue Gegenteil davon: eine ganz und gar nichtmetaphysische Theorie des gesellschaftlichen (menschlichen) Seins. Der Begriffsnominalist wird sich nie darauf verlassen, dass das von ihm mit einem Wort Gemeinte auch von Anderen im gleichen Sinn verstanden wird; er ist gezwungen, seinen Sprachgebrauch ständig kritisch zu reflektieren und die von ihm gebrauchten Wörter definitorisch genau zu bestimmen. Geht der Begriffsrealist letztendlich von einer Metaphysik der Sprache aus, so der Begriffsnominalist als konsequenter Antimetaphysiker von dem genauen Gegenteil. Begriffliche Bezeichnungen sind für ihn konventionelle Festlegungen, von denen in einem individuellen Gebrauch selbstverständlich abgewichen werden kann, solche Abweichungen aber genau definitorisch zu vermerken sind. In besonderen Fällen, wenn für etwas von ihm Gemeintes, für einen neu gefundenen Begriffssinn, kein überlieferter Terminus zur Verfügung steht, wird er eine neue terminologische Bezeichnung erfinden müssen (was in Theorien von Belang keineswegs selten der Fall ist). Ein solches Vorgehen erfordert selbstverständlich besondere definitorische Genauigkeit. Denken ist also stets auch Arbeit in, an und mit der Sprache. Das terminologische Ideal ist die Klarheit und Deutlichkeit des mit der gebrauchten Sprache Gemeinten. Dies gilt in vollem Umfang für das hier diskutierte Problemfeld, für den Begriff des Gesamtzusammenhangs im Besonderen.

3 Zitiert nach Hoffmeister 1998, S. 724.

4 Des Näheren dazu: ebd., S. 240–249.

5 Ebd., S. 142–144.

6 Zum Begriff der Aneignung siehe Metscher 2012, S. 177–189; ders. 2013, S. 39–43.

7 Lukács 1984, Bd. 2, S. 398.

8 Zum Ideologiebegriff des Näheren siehe Abschnitt II,5. dieses Textes: „Wirklichkeit als das Seiende im Ganzen“.

9 Marx und Engels haben ihr eigenes Denken keineswegs als ‚ideologisch‘ bzw. als Form von Ideologie verstanden; Marx selbst verwendet den Begriff der ‚freien geistigen Produktion‘ in einem Sinn, der nichtideologisches Bewusstsein einschließt (MEW 26.1, S. 257).

10 Im Folgenden abgekürzt mit GZ.

11 Ich orientiere mich hier am Begriff des Empirischen der Deutschen Ideologie, in der es heißt:

„Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar“ (MEW 3, S. 20).

12 Lenin 1971, Bd. 14, S. 129.

13 Der GZ schließt begrifflich die Einheit von Theorie und Praxis ein, das Denken des GZ enthält diese Einheit aber nur als gedachte – ist folglich von realer Praxis strikt zu unterscheiden.

14 Aus: Die Verantwortung der Philosophie. Dankesrede aus Anlaß der Verleihung des Ehrendoktors der Universität Urbino, 2.5.2002 (Holz 2003, S. 71).

15 Holz 1991, S. 71.

16 MEW 3, S. 7.

17 MEW 1, S. 385.

18 Nach MEW 1, S. 379.

19 Holz 2011, S. 32.

20 Holz 2005, S. 190 ff.

21 Siehe auch Andreas Hüllinghorst: Denker des Ganzen. Zum Tod von Hans Heinz Holz, in: Junge Welt vom 13. Dezember 2011.

22 Ich denke an Marx’ Begriff des ‚Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse‘ in den Feuerbach- Thesen.

23 In der Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit wird der Begriff im 3. Kapitel des III. Hauptstücks, die „‚Umkehrung‘ Hegels durch den Marxismus“ im Sinn einer „dialektischen Ontologie“ exponiert, und zwar unter den Gesichtspunkten „Enzyklopädischer Realismus“, „Politische Praxis und wissenschaftliche Weltanschauung“ und „Gesamtzusammenhang und Dialektik der Natur“ (Holz 1997, S. 311–360). Das Kapitel enthält eine detaillierte begriffsgeschichtliche Herleitung des Begriffs, die diesen argumentativ überzeugend als Grundkategorie marxistischen Denkens etabliert. In Holz’ systematischem Hauptwerk, das eine „Grundlegung der Dialektik“ versucht, ist der GZ, als „Konstruktion des Ganzen“, eine Leistung – die zentrale Leitung – der spekulativ aufgefassten Dialektik (siehe Holz 2005, S. 190 ff.); deshalb auch der programmatische Titel der Problemgeschichte: ‚Einheit und Widerspruch‘. Der GZ wird als leitendes Konzept des holzschen systematischen Entwurfs begründet – ja, er ist Integral des Gattungsprozesses des Denkens selbst. Auf das hochkomplexe Problem solcher Begründung näher einzugehen, ist im Rahmen dieses kurzen Texts nicht möglich – dafür müsste der Kernbestand des späten holzschen Denkens aufgerollt werden. Allein einige Hinweise können an diesem Ort gegeben werden (für wichtige Anregungen dazu, auch für Texthinweise, bin ich Richard Sorg zu Dank verpflichtet).

24 Holz 2005, S. 16 f.

25 Ebd., S. 17.

26 Ebd., S. 17 f.

27 Ebd., S. 18.

28 In Logos und Wirklichkeit nehme ich, unabhängig von Holz, den gleichen Ausgangspunkt: den Einsatz bei der gegenständlichen Tätigkeit (siehe „Gegenständliche Tätigkeit als erste Kernkategorie“; Metscher 2010, S. 65–83), gehe dann aber auch, der unterschiedlichen Thematik entsprechend, einen anderen argumentativen Weg.

29 MEW 13, S. 637.

30 Siehe dazu den Beitrag von Stefan Otto in diesem Heft ab Seite 91.

31 Gräbe 2012, S. 192 f.

32 Ebd., S. 192.

33 MEW 20, S. 307 und 348.

34 Ebd., S. 307.

35 Siehe auch II, 5. „Wirklichkeit als das Seiende im Ganzen“.

36 Möglicherweise ließe sich hier auch von Teil-Zusammenhängen sprechen, die als Ganzes den GZ bilden – dies sind terminologische Finessen, über die noch verhandelt werden kann.

37 Der Begriff des GZ ist im strengen Sinn ein ontologischer Strukturbegriff, der menschliche Gesellschaft und Natur umgreift. Gleichwohl bedarf es für seine Konstitution der Akte des Bewusstseins. In diesem Sinn ist GZ ein zugleich epistemischer Begriff und muss als ein solcher expliziert werden. ‚Zusammenhänge‘ sind objektiv Gegebenes, und zugleich sind sie menschliche Konstruktion. Dies gerade konstituiert die Dialektik ihrer strukturellen Verfassung.

38 Siehe Metscher 2009, S. 357 ff.

39 Siehe Metscher 2010, S. 133–142.

40 Der Habitus-Begriff wird hier im Sinne Pierre Bourdieus gebraucht.

41 Ich gebe hier den Kern dessen wieder, was ich in Metscher 2010 (insbesondere im Kapitel ‚Logos als gesellschaftliches Bewusstsein‘) umfassender und innerhalb größerer argumentativer Zusammenhänge entwickelt habe.

42 MEW 23, S. 192 ff.

43 Ebd., S. 193.

44 Vgl. ebd.

45 Ebd., S. 192 und 193.

46 Ebd., S. 193.

47 Ebd., S. 194.

48 Heidegger hat diesen Gesichtspunkt im zweiten und dritten Kapitel von Sein und Zeit aufgenommen.

49 MEW 4, S. 466.

50 Des Näheren Metscher 2010, S. 91–96.

51 MEW 6, S. 408.

52 MEW 13, S. 9.

53 Geiß 2002, S. 73 ff.

54 Marx, MEW 23, S. 618.

55 Ich greife hier auf den Demokratiebegriff Abendroths zurück (vgl. Römer 1986).

56 Schiller, Don Carlos, IV, S. 21.

57 Ich denke an die Analysen des Kommunistischen Manifests.

58 Auf die Probleme und Implikate des holzschen Konzepts kann ich an diesem Ort nicht näher eingehen; ich beschränke mich auf skizzenhafte Notizen.

59 MEW, 20, S. 307.

60 Craig 1987, S. 140.

61 Joyce 1992, S. 12.

62 Aristoteles, Physik, II, 8, 199a.

63 MEW 20, S. 453.

64 MEW 20, S. 107.

65 Des Näheren Metscher 2010, S. 389–437.

66 Für diesen Sachverhalt führe ich den Begriff des energetischen Potentials ein (Metscher 2010, S. 408 f.).

67 Die heute mit medialem Aplomb geführte Diskussion über das sogenannte Anthropozän geht auf die geowissenschaftliche Einsicht zurück, dass die menschengemachte Veränderung des Planeten Erde mittlerweile eine Qualität erreicht hat, die von einem „neuen Erdzeitalter“ zu sprechen nötigt. Nach einem Vorschlag britischer Geologen soll als Beginn des Anthropozäns – und dies weist auf die Verursachung dieser Veränderungen hin – der Beginn der Industrialisierung festgelegt werden (Wikipedia). Solche wissenschaftlich-empirischen Befunde passen genau in das hier vorgetragene kulturphilosophische Konzept: Sie illustrieren die These menschlicher Weltkonstitution als Transformation von Natur samt der hier ausgeführten geschichtlichen Konsequenzen.

68 Aristoteles, Metaphysik I 2. 982 b 9.

69 Hoffmeister 1998, S. 412.

70 Zum Ideologiebegriff des Näheren Metscher 2010, S. 321–388; ders. 2012; Rehmann/Metscher 2012; Metscher, „Ideologie und Kultur“, erscheint in Hahn/Metscher/Seppmann, Nebelwelten des Bewusstseins. Marxismus und Ideologie, Laika Verlag, München Herbst 2015.

71 Des Näheren Metscher 2010, S. 420–427.

72 Holz 2005, S. 46 ff.

73 So Haug 2008. Zu Renate Wahsners Kritik von Holz’ Weltentwurf und Reflexion vgl. die Beiträge von Hüllinghorst und mir in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 81/2010 (Metscher 2010a).

74 MEW 20, S. 307.

75 Eine auch philosophisch relevante Rehabilitierung des Lukrez für modernes materialistisches Denken gibt Greenblatt 2011.

76 Metscher 2010, S. 65–83.

77 Einer der wenigen Marxisten, die sich dieses Problems angenommen haben, ist Terry Eagleton (Eagleton 2007).

78 Siehe das Kapitel „Eudaimonie, Autarkie und die Immanenz des Sinns“ in Metscher 2010, S. 420-427.

79 MEW 1, S. 385.

80 So das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Hegel, Werke, Bd. 1, S. 386.

81 Zitiert nach Balzer 2010, S. 200.

82 Siehe P. James Connolly and the Reconquest of Ireland. Minneapolis 2001, pp. 127–133; Metscher, The Marxism of James Conolly. CPI-Publication. Dublin 2015.

83 Siehe Castro 2008, passim.

84 Rehmann 2012.

85 Balzer 2010, S. 214 f.

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