
Andreas Arndt, Berlin
Frei(heits)räume
Abstrakte und konkrete Allgemeinheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts
1.
Recht ist für Hegel „Daseyn des freyen Willens […]. – Es ist somit überhaupt die Freyheit, als Idee.“1 Diese Bestimmung im Paragraphen 29 der Grundlinien der Philosophie des Rechts wendet sich gegen eine negative Auffassung des Rechts, wie sie den vertragstheoretischen Vergesellschaftungsmodellen zugrundeliegt. Hegel verweist hier ausdrücklich auf Kants Rechtslehre, die einer seit Rousseau verbreiteten Ansicht folge, wonach „der Wille nicht als an und für sich seyender, vernünftiger […] sondern als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigenthümlichen Willkühr, die substantielle Grundlage und das Erste seyn soll. Nach diesem einmal angenommenen Princip kann das Vernünftige freylich nur als beschränkend für diese Freyheit, so wie auch nicht als immanent Vernünftiges, sondern nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskommen.“2
Das „nur“ hat freilich die Bedeutung, dass die Sphäre des Rechts eben auch, wenn auch nicht ausschließlich, ein „formelles Allgemeines“ ist, was für das abstrakte Recht zweifellos ebenso zutrifft wie für die Verkehrsform der bürgerlichen Gesellschaft, das System der Bedürfnisse, in welchem sich die Besonderheit nach Hegel „in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkühr“ befindet „so wie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt“ ist.3 Die formelle oder abstrakte Allgemeinheit ist demnach notwendiges Moment der Freiheit. Hegel sagt dies auch ausdrücklich in seiner Notiz zum Paragraphen 7 der Grundlinien der Philosophie des Rechts: „wahre Allgemeinheit geht hindurch durch abstracte Allgemeinheit und durch Besonderheit“.4
Aus Sicht vieler, vor allem linkshegelianischer Positionen erscheint dies als Zumutung und wird gern marginalisiert oder ganz übergangen.5 Abstrakte Allgemeinheit steht dort für Entfremdung, die„Vergleichung an der Stelle der wirklichen Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit“, wie Karl Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie schrieb.6 Sie ist Index eines falschen Allgemeinen, des Ganzen als des Unwahren, wie es Adorno in Umkehrung eines Hegelschen Diktums7 griffig formuliert hat: „‘Das Ganze ist das Unwahre‘, nicht bloß weil die These von der Totalität selber die Unwahrheit, das zum Absoluten aufgeblähte Prinzip der Herrschaft ist. Die Idee einer Positivität, die alles ihr Widerstrebende zu bewältigen glaubt durch den übermächtigen Zwang des begreifenden Geistes, verzeichnet spiegelbildlich die Erfahrung des übermächtigen Zwanges, der allem Seienden durch seinen Zusammenschluss unter der Herrschaft innewohnt. Das ist das Wahre an Hegels Unwahrheit.“8 Hier wird nicht nur behauptet, dass die entfremdete, abstrakte Allgemeinheit der wahren, nichtentfremdeten gegenüberstehe, sondern darüber hinaus auch, dass Hegels Konzeption des wahren Allgemeinen nichts anderes sei als die zur Totalität erhobene und verabsolutierte abstrakte Allgemeinheit. Demgegenüber sei die wahre Allgemeinheit, die Hegel als verwirklicht angesehen habe, noch ausstehend im Horizont einer Verwirklichung der Philosophie: „Der Strahl, der in all seinen Momenten das Ganze als das Unwahre offenbart, ist kein anderer als die Utopie, die der ganzen Wahrheit, die noch erst zu verwirklichen wäre“; dies – so Adorno – sei „das Wahre an Hegels Unwahrheit“.9
Das Wahrheitsmoment, welches Adorno Hegel zubilligt, wäre für Hegel das Unwahre, nämlich ein bloßes Seinsollendes und nicht die Wirklichkeit der Vernunft. Und selbst dann, wenn man die Auffassung vertritt, Hegel könne die vollständige Realisierung der Freiheit als noch ausstehend gedacht haben (wozu es gute Gründe gibt), würde die Gegenüberstellung der abstrakten und der wahren Allgemeinheit in die Irre führen. Die abstrakte Allgemeinheit ist vermittelt mit der wahren bzw. konkreten Allgemeinheit – für Hegel ist dies dasselbe10 – und das nicht in einem historischen bzw. geschichtsphilosophischen Sinne, wie es die Umdeutung der letzteren zur Utopie nahe legt. Vielmehr ist die abstrakte Allgemeinheit Moment der Totalität und damit der Selbstvermittlung dessen, was Hegel die „wahre“ Allgemeinheit nennt. Anders gesagt: Sie bleibt in der Aufhebung auch erhalten und verschwindet nicht einfach.
Im Folgenden geht es mir um dieses Verhältnis von abstrakter und konkreter Allgemeinheit in Bezug auf das, was nach Hegel den allgemeinen Begriff des Rechts überhaupt ausmacht: die Freiheit. Ich möchte zeigen, dass für Hegel die Struktur abstrakter Allgemeinheit unverzichtbarer Bestandteil von Freiheit ist: sie schafft erst Freiräume, in denen sich vielfältige Lebensentwürfe entwickeln und gestalten können. Als Sphäre der persönlichen Freiheit ist sie Ausdruck der Moderne, die sich für Hegel ja in dem Begriff der Person oder der subjektiven Freiheit geradezu zusammenfasst: „Das Recht der Besonderheit des Subjects, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjectiven Freyheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. […] Dieß Princip der Besonderheit ist nun allerdings ein Moment des Gegensatzes, und zunächst wenigstens eben so wohl identisch mit dem Allgemeinen, als unterschieden von ihm“.11 Es ist identisch mit dem Allgemeinen, indem es als allgemeines Recht eingefordert und anerkannt wird; es ist unterschieden von ihm, indem es prima vista gerade als Besonderheit der Allgemeinheit entgegengesetzt ist.
Die Vermittlung dieses Widerspruchs durch Recht, Sittlichkeit und Staat ist die eigentliche zivilisatorische Aufgabe der Moderne. Für diese Vermittlung, sofern sie gelingt, steht letztlich der Begriff der konkreten Allgemeinheit. Er bezeichnet die gesellschaftliche und politische Dimension der Freiheit. Gerade weil dieses Allgemeine sich nicht in den Gegensatz zum Einzelnen und Besonderen stellt, ist die abstrakte Allgemeinheit in ihr mit enthalten. Wenn Hegel schreibt, die abstrakte Reflexion fixiere das Recht der Besonderheit „in seinem Unterschiede und Entgegensetzung gegen das Allgemeine“,12 dann gilt ebenso umgekehrt: Auch das Allgemeine darf nicht gegenüber dem Einzelnen und Besonderen fixiert werden.
Hierin liegt eine fundamentale Spannung. Die Verteidigung des Rechts der Besonderheit gegen ein Allgemeines ist notwendiges Mittel, um totalitäre Ansprüche des Allgemeinen abzuwehren. Karl Popper übrigens hat erstaunlicherweise gemeint, dieses Recht gegen Hegel selbst in Stellung bringen zu müssen.13 Im Gegenzug birgt die Verselbständigung der Besonderheit die Gefahr der Zerstörung des politischen Gemeinwesens, eine Gefahr, die für Hegel mit der Eigendynamik der bürgerlichen Gesellschaft real war. Es wird zu fragen sein, wie Hegel diese Spannung zum Austrag bringen und bewältigen kann.
Ich werde dabei so vorgehen, dass ich zunächst (2) Hegels Unterscheidung abstrakter und konkreter Allgemeinheit grundsätzlich charakterisiere; in einem zweiten Schritt möchte ich sodann (3) auf das Problem der Freiheit in den Sphären der abstrakten Allgemeinheit – Recht, Moral und bürgerliche Gesellschaft eingehen, um schließlich (4) die Vermittlung von abstrakter und konkreter Allgemeinheit in den Grundlinien der Philosophie des Rechts zu behandeln.
2.
In sich konkrete Allgemeinheit ist, kurz gesagt, Geist. So heißt es in der Vorrede zur ersten Auflage der Seinslogik (1812), das Resultat der bestimmenden Tätigkeit des Geistes sei ein „Allgemeines, das in sich konkret ist; unter dieses wird nicht ein gegebenes Besonderes subsumiert, sondern in jenem Bestimmen und in der Auflösung desselben hat sich das Besondere schon mit bestimmt.“14 Worauf es hier ankommt, ist die Abgrenzung gegenüber einem Allgemeinen, unter das gegebene Bestimmungen subsumiert werden. Dies widerspricht der gewöhnlichen Ansicht des Allgemeinen, wonach es diejenigen Bestimmungen enthält, die allem Besonderen gemeinsam sind, nicht aber die Besonderheiten selbst, nämlich diejenigen Bestimmungen, durch die sich die Besonderen voneinander so unterscheiden, dass sie einander ausschließen.15 Kant bezeichnete das Allgemeine nach dieser gewöhnlichen Ansicht als ein Analytisch-Allgemeines im Unterschied zum Synthetisch-Allgemeinen; ersteres subsumiere Vieles unter einen Begriff, letzteres enthalte das Viele in einem Begriff.16 Das Synthetisch-Allgemeine ist für Kant eine bloße Denkmöglichkeit; es wäre „die Anschauung des Ganzen als eines solchen“, von der man zum Besonderen bzw. „zu den Theilen“ gehen würde, wie es im § 77 der Kritik der Urteilskraft heißt.17
Hegel – und in der nachkantischen Philosophie nicht nur er – will genau dies, wobei er freilich, was im Blick auf die Struktur seiner Rechtsphilosophie von fundamentaler Bedeutung ist, das synthetische Moment dem analytischen nicht entgegenstellt. Ausdrücklich schreibt er in der Wissenschaft der Logik: „Die Methode der Wahrheit aber, die den Gegenstand begreift, ist zwar, wie gezeigt, selbst analytisch, da sie schlechthin im Begriffe bleibt, aber sie ist ebenso sehr synthetisch, denn durch den Begriff wird der Gegenstand dialektisch und als anderer bestimmt.“18 Dies hat zur Folge, dass das abstrakt Allgemeine dem konkret Allgemeinen nicht einfach nur entgegensteht, sondern:
„Das abstrakt Allgemeine ist somit zwar der Begriff, aber als Begriffloses, als Begriff, der nicht als solcher gesetzt ist.“19 Das Abstrakte ist, wie Hegel betont, nicht leer, d.h. die Abstraktion hat einen Inhalt bzw. eine Bestimmtheit20 und ist dadurch Moment des sich bestimmenden Begriffs oder des Geistes, der sich als Geist erfasst.
Ich möchte es bei diesen Hinweisen auf die logische Bestimmung des Verhältnisses von abstrakter und konkreter Allgemeinheit bewenden lassen. Es ist ersichtlich, dass diese Bestimmung Konsequenzen für die Realphilosophie des Geistes haben muss, wenn Hegel konkrete Allgemeinheit als Geist fasst. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts beruft Hegel sich auch ausdrücklich auf die (dialektische) Methode, die er aus der Wissenschaft der Logik voraussetze, um die Bestimmung des Verhältnisses des Allgemeinen und Besonderen durchzuführen: „Das bewegende Princip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich die Dialektik“.21
Diese Dialektik durchzieht alle Kategorien der Grundlinien; vom Eigentum, der ersten Kategorie des abstrakten Rechts, bis hin zum Staat als letzter Kategorie der Sittlichkeit. Als Dasein der Freiheit repräsentieren die verschiedenen Stufen der Entwicklung „Unterschiede der Entwicklung des Freyheitsbegriffs. Gegen formelleres, d.i. abstracteres und darum beschränkteres Recht, hat die Sphäre und Stufe des Geistes, in welcher er die weitern in seiner Idee enthaltenen Momente zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die concretere in sich reichere und wahrhafter allgemeine eben damit auch ein höheres Recht.“22 Es geht also um eine schrittweise Konkretion des Freiheitsbegriffs in den Sphären dessen, was Hegel „Recht“ nennt. Diese Entwicklung zum konkreten Freiheitsbegriff ist zunächst nicht die Entwicklung in der Zeit, seine geschichtliche Herleitung, sondern die Entwicklung des internen systematischen Zusammenhangs dessen, was Hegel „Recht“ nennt, der „Idee der Freyheit“.23 Hegel macht dies in der Erläuterung zu dem hier zitierten Paragraphen 30 der Grundlinien deutlich. Abstraktes Recht, Moralität, Sittlichkeit und „Staatsinteresse“ seien „jedes ein eigenthümliches Recht“, die nicht zum Recht überhaupt in Kollision stehen können, sondern nur „insofern sie auf gleicher Linie stehen, Rechte zu seyn“; insofern sind sie gegeneinander beschränkt und „nur das Recht des Weltgeistes ist das uneingeschränkt absolute.“24
Dieser Weltgeist scheint erst am Ende der Grundlinien dort auf, wo aus dem Verhältnis der Staaten zueinander „der allgemeine Geist, der Geist der Welt“ als „unbeschränkt[er]“ hervorgeht, „der sein Recht, – und sein Recht ist das allerhöchste, – […] in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt.“25 Das ist vielfach so missverstanden worden, als sei es hier mit der Freiheit zu Ende und eine blinde Macht habe das letzte Wort. Das Gericht des Weltgeistes, so schärft Hegel ausdrücklich ein, ist jedoch nicht „die abstracte und vernunftlose Nothwendigkeit eines blinden Schicksals“, sondern die „aus dem Begriffe nur seiner [d.h.: des Geistes] Freyheit nothwendige Entwickelung der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewußtseyns und seiner Freyheit, – die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes.“26 Mit anderen Worten: Das Gericht ist nichts anderes, als das, was Hegel zum Begriff der Weltgeschichte überhaupt macht, nämlich „Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit“.27 Dies betrifft auch das, was Hegel als „Verwirklichung des allgemeinen Geistes“ bezeichnet, denn, wie es in der „Einleitung“ zur Wissenschaft der Logik heißt: „nur in seinem Begriff hat etwas Wirklichkeit; insofern es von seinem Begriff verschieden ist, hört es auf, wirklich zu sein, und ist ein Nichtiges“.28 Das bedeutet: Der Begriff, der sich als Begriff vollständig erfasst hat – die absolute Idee als absolute Methode – ist der normative Maßstab, der realphilosophisch zur Geltung zu bringen ist. Da der Begriff in dieser seiner Spitze als absolute Idee nichts anderes ist als Subjektivität und Freiheit, ist Freiheit im Sinne absoluter Selbstbestimmung der normative Grund der Realphilosophie und daher auch der Philosophie des objektiven Geistes, wie sie in den Grundlinien der Philosophie des Rechts dargelegt wird.
Dabei gilt, dass der vollständige Begriff des Begriffs als das Bewusstsein der Freiheit bzw., was dasselbe ist, die absolute Idee, Resultat der Arbeit der Weltgeschichte und nicht deren Voraussetzung als ein seinsollendes telos ist. Ich kann daher Axel Honneth nicht folgen, wenn er in seinem Buch Das Recht der Freiheit schreibt, bei Hegel klinge es so, „als wolle er die Freiheitszwecke der Subjekte direkt und unvermittelt aus dem Begriff eines sich historisch entfaltenden Geistes entwickeln.“29 Abgesehen davon, dass Hegel unvermittelt gar nichts entwickeln, sondern nur setzen könnte, halte ich Honneths aus seinem Einwand folgenden Vorschlag, die in den Grundlinien praktizierte Methode Hegels „vom Hintergrund seiner Geistmetaphysik“ abzutrennen,30 für prekär. Gerade in der Geschichtlichkeit des Geistes und nur in ihr liegt ja die Möglichkeit, auf eine unvermittelte Setzung von Freiheitszwecken und Freiheitsbewusstsein zu verzichten. Und dieser geschichtlich sich entwickelnde Geist ist, das muss hier wohl auch noch einmal betont werden, nicht das abstrakt-allgemeine Gegenüber zu den gesellschaftlichen Individuen, sondern das Resultat ihrer allgemeinen, d.h. gattungsmäßigen Tätigkeit.
3.
Die Bedeutung der Sphäre der abstrakten Allgemeinheit für Hegels Freiheitsverständnis lässt sich gerade im Blick auf diejenige Position deutlich machen, deren Freiheitsbegriff er als bloß negativ kritisiert. In seiner Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht vertritt Kant die These, dass die „ungesellige Geselligkeit“31 egoistischer, aber aufeinander angewiesener Menschen am Ende doch eine gesetzmäßige Ordnung hervorbringe. Es handele sich dabei um „eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft“,32 die endlich in ein moralisches Ganzes verwandelt werden solle und könne. Das Ziel ist die „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“, die als ein „Gehege“ vorgestellt wird, in welchem der Wildwuchs der Freiheit dizipliniert sei.33 Einhegen lasse sich die egoistische Freiheit der Einzelnen aber nur durch Herrschaft, durch einen „allgemeingültigen Willen“, der den „eigenen Willen breche“: „der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat“.34
Hegel kommt in wenigstens zwei Punkten mit Kant überein. Zum einen ist natürlich auch Hegel der Zwangscharakter des Rechts nicht fremd,35 und in diesem Zusammenhang ist Herrschaft nicht nur legitimiert, sondern notwendige Bedingung eines Rechtszustandes. Dies wird negativ an Hegels Widerspruch gegen Kants Theorie des äußeren Staatsrechts deutlich. Für Hegel ist eine internationale Rechtsordnung gerade deshalb nicht denkbar, weil es „keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten“ gebe, also keine Zwangsgewalt jenseits der besonderen Willen, und deshalb bleibe „jene allgemeine Bestimmung“ des Völkerrechts „beim Sollen“, einem „gelten sollenden“ Recht, das damit, so ist zu folgern, kein Recht sei, sondern ein sollensethischer Imperativ.36
Die Differenz zu Kant liegt also nicht in dem Zwangscharakter des Rechts, der für Hegel vielmehr eine conditio sine qua non des Rechts ist. Der fundamentale Unterschied liegt vielmehr darin, dass für Hegel das Recht Freiheit nicht begrenzt, sondern mit Freiheit zusammenfällt: es ist Dasein der Freiheit. Das bedeutet: Vorgängig ist nicht eine Freiheit, die der Einzelne egoistisch auslebt und die durch das Recht erst gesellschaftsfähig gemacht werden muss, sondern grundlegend ist ein gesellschaftlicher Zusammenhang, in dem sich durch das, was Hegel die Arbeit des Weltgeistes nennt, rechtliche und staatliche Strukturen erst herausbilden, durch welche Freiheitsräume allererst eröffnet werden. Individuelle Freiheit, so müsste man sagen, gibt es nicht vor dem Rechtszustand, sondern sie ist dessen Produkt, genauer gesagt, sie ist, wie eingangs bereits erwähnt, Produkt und Kennzeichen der Moderne. Den Prozess, der dazu führte, beschreibt Hegel eindringlich in dem Manuskript seiner „Einleitung“ zu den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1830/31: „Erst die germanischen Nationen sind im Christenthum zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frey, die Freyheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; diß Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber diß Princip auch in das weltliche Wesen einzubilden, diß war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere, lange Arbeit der Bildung erfodert. Mit der Annahme der christlichen Religion hat z.B. nicht unmittelbar die Sclaverey [aufgehört], noch weniger ist damit sogleich in den Staaten die Freyheit herrschend, sind die Regierungen und Verfassungen auf eine vernünftige Weise organisirt, auf das Princip der Freyheit gegründet worden. Diese Anwendung des Princips auf die Wirklichkeit, die Durchdringung, Durchbildung des weltlichen Zustands durch dasselbe ist der lange Verlauff, welcher die Geschichte selbst.“37
Hegels Rechtsphilosophie ist der Versuch, dieses Prinzip der Moderne zum Ausgangspunkt der zivilen und politischen Vergesellschaftung zu machen und auf jegliche Entlehnung politischer Legitimität aus anderen Quellen zu verzichten. Eine wesentliche Konsequenz aus dem Recht der Besonderheit ist der Gedanke der Gleichheit der Menschen als Personen: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist, – dies Bewußtseyn, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit“.38 Hiermit ist Mensch-Sein als eine rechtliche Bestimmung ausgesprochen; es ist – wie Hegel im Blick auf die bürgerliche Stellung der Juden bemerkt – mehr als „eine flache, abstracte Qualität“.39 Dass der Mensch als Mensch, durch sein bloßes Menschsein, Rechtssubjekt sei, und zwar nicht von Natur aus, sondern erst auf dem Boden der Moderne, ist Hegels Fassung der Menschenrechte.40 Sie haben, wenn man so will, den scheinbar paradoxen Status eines gesellschaftlich vermittelten Naturrechts: Erst in der Moderne konstituiert das Recht Menschsein als Rechtsbestimmung.
Hieran zeigt sich exemplarisch die positive Bedeutung der abstrakten Allgemeinheit, denn zweifellos ist bloßes Menschsein eine Abstraktion, aber eben eine ‚verständige‘, d.h. eine, die Sinn gerade durch die Art und Weise der Abstraktion macht.41 Abstrahiert wird davon, dass der Mensch außer dem, Mensch und damit zugleich auch im rechtlichen Sinne Person zu sein, noch etwas ist. Mit dieser Abstraktion wird ein Freiraum eröffnet, der das, wovon abstrahiert wird, wenigstens zum Teil aus dem Bereich allgemeiner Normierung und Kontrolle herausnimmt und zunächst dem ‚Lampenlicht des Privaten‘42 anvertraut; dabei geht es, wie die vorhin zitierte Stelle deutlich macht, z.B. um Religion, die zur Privatsache wird, was angesichts der erstarkenden antijüdischen Gesinnungen im damaligen Preußen – man denke nur an Friedrich Karl von Savigny – keine Kleinigkeit ist.43 Selbstverständlich erstrecken sich juristische Normierungen auch auf Bereiche, von denen das bloße Personsein abstrahiert, denn kein Rechtssystem besteht nur aus Grundrechten. Aber es geht mir hier zunächst um das Prinzip, dass das Recht, welches seiner Natur nach abstrakt-allgemein ist, gerade aufgrund dieses Charakters Freiräume schafft.
Die rechtlich nicht reglementierte Sphäre der persönlichen Freiheit markiert den Einsatz der Moralität; auch sie ist eine Sphäre der Freiheit, aber ebenfalls abstrakt-allgemein. Ich will Hegels Kritik der Moralität, die im Wesentlichen auf Kant und Fichte, die sogenannte Sollensethik, zielt, hier nicht weiter erörtern, sondern nur auf die grundlegende Aporie hinweisen, durch die diese Sphäre nach Hegel geprägt ist. Die Imperative, Regeln bzw. Maximen der Sollensethik kommen mit Rechtssätzen darin überein, dass sie abstrakt-allgemein sind. Es ist aber eine Allgemeinheit, die nicht auf Normsetzungen beruht, die dem Subjekt von Seiten eines gegebenen Allgemeinen (des Staates) gleichsam objektiv gegenübertreten, sondern eine Allgemeinheit, die vom Subjekt selbst gesetzt wird. Auch hier geht es also um die subjektive Freiheit, das Recht der Besonderheit: „Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjects“; dieses Recht weist aber eine grundlegende Schwierigkeit auf und Hegel fährt daher unmittelbar fort, dass dieses Recht „zugleich formell“ sei „und das Recht des Vernünftigen als des Objectiven an das Subject bleibt dagegen fest stehen.“44 Als formell ist dieses Recht vor allem deshalb anzusehen, weil die Grundsätze, nach denen das Subjekt urteilt, wenn es moralisch urteilt, notwendig abstrakt-allgemein sind. Notwendig deshalb, weil das Subjekt diese Allgemeinheit nur erreichen kann, wenn es – ungeachtet der Annahme, dass es selbst die moralischen Grundsätze konstituiert – um der Allgemeinheit willen von der Besonderheit seiner Subjektivität und der konkreten Situationen, auf welche die Grundsätze Anwendung finden sollen, absehen muss.
Tut es dies nicht, so setzt das Subjekt seine bloße Subjektivität an die Stelle der Allgemeinheit. Es verabsolutiert dann um den Preis der Zerstörung der Moralität (die ja eine Verpflichtung auf allgemeine Gesetze beinhaltet) das Recht der Subjektivität. Hierin besteht nach Hegel die Schwierigkeit des Gewissens, das sich letztlich auf die bloße Subjektivität beruft. Umgekehrt: Unterwirft sich das Subjekt den moralischen Grundsätzen als Verpflichtungen, die es erfüllen soll, dann treten ihm diese, unabhängig von seinem momentanen Willen, als objektiv nötigend gegenüber. Hierin besteht nach Hegel die Schwierigkeit des Guten, das den Charakter abstrakter Allgemeinheit gegen die Subjektivität annimmt. Beides muss vereinigt werden, um Freiheit nicht zu zerstören, die hier von zwei Seiten bedroht ist: von der bloßen Willkür der Subjektivität einerseits, welche das Band der gesellschaftlichen Individuen zerreißt, und von der abstrakten Allgemeinheit des Guten andererseits, welche das Recht der Subjektivität unterläuft. Die Vereinigung des Subjektiven und des Allgemeinen ist die Sittlichkeit als die, „somit concrete, Identität des Guten und des subjectiven Willens“ oder die „subjective Gesinnung aber des an sich seyenden Rechts.“45
Mit der Sittlichkeit sind wir im Bereich der konkreten Allgemeinheit. Dennoch muss hier kurz innegehalten und gefragt werden, was es bedeutet, dass die Moralität sich in die Sittlichkeit aufhebt. Ernst Tugendhat hat darin einen „nicht einmal mehr von Hegel zu überbietende[n] Gipfel der Perversion“ erblickt, weil damit individuelle Freiheit negiert werde: „was vom Individuum zu tun ist, steht in einem Gemeinwesen fest; das eigene Gewissen des Einzelnen hat zu verschwinden, und an die Stelle der Reflexion tritt das Vertrauen; das ist es, was Hegel mit der Aufhebung der Moralität in die Sittlichkeit meint.“46 Ludwig Siep hat dagegen mit Recht geltend gemacht, dass ‚Aufhebung‘ bei Hegel nicht bedeutet, dass etwas getilgt wird, sondern die Aufbewahrung auf einer höheren Stufe der Allgemeinheit bezeichnet.47 Die Moralität und mit ihr das absolute Recht der Subjektivität stelle sich daher vielmehr in erweiterter Form in der Sittlichkeit wieder her und bekomme ihre Sphäre zugewiesen, in der sie ihr Recht behaupte und darin zugleich begrenzt werde.
Diese Sphäre ist die der bürgerlichen Gesellschaft; hierin hat, so Hegel, „die Moralität ihre Stelle, das Insichsein des besonderen Individuums“.48 Nun ist bürgerliche Gesellschaft für Hegel die Differenz zwischen Familie als der unmittelbaren oder natürlichen Sittlichkeit und dem Staat. Diese Differenz ist für Hegel Kennzeichen der Moderne und nicht revozierbar, auch wenn sie, innerhalb der Sittlichkeit, wiederum eine Sphäre der „formellen Allgemeinheit“ und Äußerlichkeit darstellt.49 Daraus erwächst eine doppelte Aufgabe, die unterstreicht, dass das Vermittlungsproblem mit dem Übergang in die Sittlichkeit noch nicht gelöst ist, sondern sogar an Schärfe gewinnt. Weder darf, so Hegels Überzeugung, der Standpunkt der Moralität auf den Staat übergreifen und die ihr eigentümliche Sphäre dadurch entgrenzen, noch darf umgekehrt – und das ist ausdrücklich zu betonen – der Staat, in welchen sich für Hegel die Sittlichkeit zusammenfasst, auf totalitäre Weise auf die Sphäre der Moralität durchgreifen und die Freiheit, individuellen Lebensentwürfe zu verfolgen, durch paternalistische Vorschriften ersetzen.
4.
Die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ist für Hegel die Sphäre der Besonderheit und damit auch der persönlichen Freiheit, die aufgehobene (aber darum fortbestehende) Moralität in der Sittlichkeit. Das Allgemeine, was darin enthalten ist und den Rahmen der Besonderheit überschreitet, ist zweifacher Natur. Es ist einerseits die Wechselseitigkeit der Bedürfnisbefriedigung, weshalb die ökonomische Sphäre ja auch als „System der Bedürfnisse“50 fungiert. Es ist andererseits die abstrakte Allgemeinheit der Freiheit, das Recht des Eigentums.51 Dass diese Sphäre in sich negativ ist, hat Hegel schon 1802/03 in seinem Aufsatz Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts gesehen: „Das System der sogenannten politischen Oekonomie“ sei „ganz in der Negativität und in der Unendlichkeit“ befangen,52 d.h. es sei eine negative Totalität, welche von der positiven sittlichen Totalität, dem Staat „ganz negativ behandelt werden, und seiner Herrschaft unterworfen bleiben muß; was seiner Natur nach negativ ist, muß negativ bleiben, und darf nicht etwas festes werden. Um zu verhindern, daß es sich nicht für sich constituire, und eine unabhängige Macht werde, […] muß das sittliche Ganze es in dem Gefühl seiner innern Nichtigkeit erhalten“.53 In den Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es dazu, dass der Staat auf keinen Fall „mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigenthums und der persönlichen Freyheit gesetzt“ werden dürfe.54
Tatsächlich stellt sich die bürgerliche Gesellschaft für Hegel als ein Nest von Widersprüchen dar, das innerhalb ihrer nicht gelöst werden kann, und genau hierin besteht ihre Negativität. Diese Widersprüche sind in dem Begriff des Pöbels konzentriert, der aus einer „Dialektik“ der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht, durch welche sie „über sich hinausgetrieben“ wird.55 Erscheinungsweise dieser Dialektik ist die Polarisierung der Gesellschaft in Reichtum und Armut. Der ‚Pöbel‘, das sind dabei nicht nur die Pauper, sondern – dies hat Frank Ruda eindringlich gezeigt56 – es gibt ebenso einen reichen Pöbel. Armut wie Reichtum bewirken einen Verlust „des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Thätigkeit und Arbeit zu bestehen“.57 Nun ist die Ungleichheit des Besitzes für Hegel grundsätzlich kein Problem, wenn der Staat regulierend eingreift: „Der Staat muß das Moment der Ungleichheit respektieren, weil es ein Moment der Willkür in der Zufälligkeit und Freiheit des Individuums ist. Ein Allgemeines muß freilich sich bemühen, die Folgen, die daraus entstehen könnten, wenn sie schädlich sind, abzuwenden.“58 Dies gelingt jedoch nicht. Für die arbeitende Klasse resultiert aus der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft gerade „die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weitern Freyheiten und besonders der geistigen Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft“.59 Der arme Pöbel wird damit aber auch von den Rechten ausgeschlossen, denn, so heißt es in einer Nachschrift zur Vorlesung 1821/22: „in der bürgerlichen Gesellschaft hat jeder den Anspruch, durch seine Arbeit zu existieren; erlangt er nun durch seine Tätigkeit dies Recht nicht, so befindet er sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit“.60 Die „Empörung“ des armen Pöbels gegen das Recht ist nach Hegel die Folge. Aber auch der Reichtum, der nicht auf eigener Arbeit beruht, stellt sich, freilich auf andere Weise, außerhalb des Rechts. So heißt es in derselben Vorlesung: „Es gibt auch reichen Pöbel. Denn der Reichtum ist eine Macht, und diese Macht des Reichtums findet leicht, daß sie auch die Macht ist über das Recht […] Man kann dies dann auch Verdorbenheit nennen, daß der Reiche sich alles für erlaubt hält.“61
Um es kurz zu sagen: Hegel liefert eine für seine Zeit und angesichts der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland erstaunlich hellsichtige Diagnose, weiß aber nicht wirklich eine Therapie, die bei der Ursache ansetzt, nämlich bei der Eigendynamik des Systems der Bedürfnisse. Diese schlägt auf die bürgerliche Gesellschaft so durch, dass Freiheitsräume der gesellschaftlichen Individuen zu rechtsfreien Räumen werden, in denen Machtverhältnisse regieren, obwohl die Konstitution dieser Sphäre selbst und ihre Rahmenbedingungen als rechtskonform anzusehen sind und den Status des Personseins aller gesellschaftlichen Individuen nicht verletzen. Wie dies möglich ist, wird Marx später zu erklären versuchen, denn ihm zufolge verletzt die Aneignung des Mehrwerts durch den Kapitalisten ebenfalls nicht das bürgerliche Vertragsrecht und den Status der Lohnarbeiter als freie Personen.
Hegels Palliativmittel gegen die Auswüchse der bürgerlichen Gesellschaft sind die Korporationen, in denen der Bourgeois gewissermaßen an der Ehre gepackt wird,62 um seinen Eigennutz zu brechen und ihn „zur bewußten Thätigkeit für einen gemeinsamen Zweck“ zu erheben.63 Dass dies Mittel heute noch zureichend sein könnte, wird vermutlich niemand ernsthaft behaupten wollen. Und ebenso müsste heute die Frage gestellt werden, ob nicht schon lange das eingetreten ist, was Hegel befürchtet hatte, nämlich die Auslieferung der politischen Gemeinwesen an eine inzwischen globalisierte Ökonomie. Eine Beschränkung ihrer Eigendynamik durch einzelne Staaten dürfte illusionär sein. Der Grund dieser Dynamik liegt darin, dass die bürgerliche Gesellschaft aus sich selbst heraus Allgemeinheit nur als (abstrakte) Verstandes-Allgemeinheit hervorbringt,64 welche partikulare Zwecke und Interessen auf konfliktträchtige Weise vermittelt. Die Korporationen sollen dagegen ein Moment konkreter Allgemeinheit in die bürgerliche Gesellschaft hineintragen und in ihr verankern, das erst im Staat voll zur Geltung kommt.
Ich will Hegels Theorie des Staates hier nicht näher behandeln, sondern nur auf einen Punkt hinweisen. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es, der Staat als substantielle Einheit sei „Selbstzweck“ und habe daher auch „das höchste Recht gegen die Einzelnen“, „deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu seyn.“65 Dies kann jedoch nur im Blick auf den Bestand der Freiheit (einschließlich des Rechtes der Subjektivität) Geltung beanspruchen. Es bedeutet, dass Hegel überhaupt das Problem der Freiheit aus einer individuellen Perspektive herausrückt und letztlich zum Problem der Gestaltung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Individuen zueinander macht. In ihnen muss sich das „Prinzip der neuern Welt überhaupt“ bewähren, nämlich die „Freiheit der Subjektivität“, weshalb alle Staatsverfassungen (und mit ihnen alle gesellschaftlichen Organisationsformen) einseitige seien, „die das Prinzip der freien Subjektivität nicht in sich zu ertragen vermögen und einer ausgebildeten Vernunft nicht zu entsprechen wissen.“66
5.
Hegels grundlegende Einsicht besteht darin, dass die abstrakte Allgemeinheit Freiheitsräume konstituiert, die nicht preisgegeben werden dürfen, wenn nicht der Staat vom konkreten in ein abstraktes Allgemeines totalitär umschlagen soll. In diesem Sinne hat Rolf Henrich als DDR-Bürger noch vor dem Ende der DDR den Staat des sogenannten „realen Sozialismus“, ein Diktum des Hegel- Schülers Eduard Gans‘ zitierend, als „vormundschaftlichen Staat“ beschrieben,67 was noch eine relativ milde Variante eines verselbständigten Allgemeinen bezeichnet. Zu den Freiheitsräumen, die aufzuheben, aber nicht abstrakt zu negieren sind, gehört nach Hegels Einsicht auch die bürgerliche Gesellschaft, ungeachtet der ihr immanenten destruktiven Tendenzen. Als aufgehobene Moralität stellt sie einen Raum nicht mehr nur individueller, sondern sozialer Freiheit dar, wie Axel Honneth es nennt.68 Das Problem besteht jedoch darin, dass die Freiheitsressourcen, welche die bürgerliche Gesellschaft an sich bereithält – die Freiheit individuell bestimmter Lebensentwürfe und -gestaltungen in der Gesellschaft – letztlich nur einem immer kleiner werdenden Teil der sogenannten „Marktteilnehmer“ zukommen kann und Rechtsverhältnisse schließlich in Machtverhältnisse umschlagen. Hegel sah dies sehr deutlich, wusste aber keinen anderen Rat als die Stärkung des gesinnungsmäßigen Elements („Ehre“).
Dass eine wirkliche Lösung nicht darin bestehen kann, diese Sphäre abstrakt zu negieren, wusste auch Karl Marx, der sich auch in dieser Hinsicht als Schüler Hegels erweist. Er unterscheidet zwischen dem „individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten“ Eigentum sowie dem kapitalistischen Privateigentum an Produktionsmitteln. In einer post- kapitalistischen Gesellschaft wäre „das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel“69 allererst wiederherzustellen. Diese These hat kaum Eingang in die Diskussionen um Marx und schon gar nicht in den politischen Marxismus gefunden. Ihre Sprengkraft wird deutlich, wenn man sich klarmacht, was „individuelles Eigentum“ hier nur bedeuten kann: nicht individuelle Konsumgüter, denn über die verfügt auch im Kapitalismus jede und jeder. Gemeint sein kann also nur das Recht, als Produzent (und nicht als „Marktteilnehmer“) über die Produktion und Distribution der Produkte in Kommunikation mit den anderen Produzenten mitbestimmen zu können. Ein solches Recht würde die soziale Freiheit in einem System wechselseitiger Bedürfnisbefriedigung mit einem Moment konkreter Allgemeinheit verbinden, das Hegel mit den Korporationen der bürgerlichen Gesellschaft überstülpen wollte. Marx‘ Alternative ist jedoch keine zu Hegel schlechthin, sondern bleibt im Rahmen des Freiheitskonzepts der Grundlinien der Philosophie des Rechts.
Endnoten
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. K. Grotsch und E. Weisser-Lohmann. 3 Teilbde., Hamburg 2009–2011 (Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Nordrhein- Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste — im Folgenden GW —, Bd. 14), Teilbd. 1, 45, § 29.
2 Ebd., Erläuterung.
3 Ebd., 161, § 185.
4 GW 14, 2, 325.
5 Vgl. z.B. Herbert Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1969, 97, wo es im Anschluss an § 29 der Grundlinien heißt, dass die in der bürgerlichen Gesellschaft „zustande gekommene Allgemeinheit keine ‚wahre‘ Allgemeinheit und daher keine wahre Gestalt der (als aufgehoben verwirklichten) Freiheit darstellt.“ Das ist zumindest nur die halbe Wahrheit, denn die ‚wahre‘ Allgemeinheit ist die Vollendung derjenigen Freiheit, die auch in der formellen bzw. abstrakten Bestand hat.
6 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/Main und Wien o.J., 79.
7 In der „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes heißt es: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ (GW 9, 19)
8 Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt/Main 1969, 104. — „Das Ganze ist das Unwahre“ ist Selbstzitat aus Minima Moralia, Frankfurt/M 1970 (zuerst 1951), 57 („Zwergobst“).
9 Adorno, Drei Studien zu Hegel, 104.
10 Vgl. GW 14, 1, 34, § 7, Erläuterung: „das Concrete und Wahre (und alles Wahre ist concret) ist die Allgemeinheit, welche zum Gegensatz das Besondere hat, das aber durch seine Reflexion in sich mit dem Allgemeinen ausgeglichen ist – Diese Einheit ist die Einzelnheit […] als der Begriff selbst.“ 11 GW 14, 1, 110, § 124, Erläuterung.
12 Ebd.
13 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 820, Kap. 12. — Vgl. kritisch dazu Walter Kaufmann, „Hegel: Legende und Wirklichkeit“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 10 (1956), 191—226.
14 GW 11, 8.
15 Vgl. Friedrike Schick, „Allgemeinheit“, in: Hegel-Lexikon, hg. v. P. Cobben u.a., Darmstadt 2006, 120—122.
16 Vgl. Immanuel Kant, Opus postumum. Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. XXI, 247: „Analytisch//allgemein ist ein Begriff durch den eines in Vielem, synthetisch// aber wodurch Vieles in einem als zusammen unter einen Begriff gebracht wird.“
17 Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 5, 407 (KU 349).
18 GW 12, 248f.
19 Ebd., 40.
20 Vgl. ebd., 40f.: „Leer ist übrigens die Abstraktion nicht, wie sie gewöhnlich genannt wird; sie ist der bestimmte Begriff; […]Insofern aber ist jeder bestimmte Begriff allerdings leer, als er nicht die Totalität, sondern nur eine einseitige Bestimmtheit enthält.“
21 GW 14, 1, 47, § 31, Erläuterung.
22 Ebd., 46, § 30.
23 Ebd., Erläuterung.
24 Ebd.
25 Ebd., 273, § 340.
26 Ebd., 274, § 342.
27 GW 18, 153.
28 GW 11, 21f.
29 Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt/M 2013, 107.
30 Ebd.
31 Immanuel Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, 20.
32 Ebd., 21.
33 Ebd., 22.
34 Ebd., 23.
35 Zu Hegels Theorie des Strafrechts vgl. Alfredo Bergés, Der freie Wille als Rechtsprinzip. Untersuchungen zur Grundlegung des Rechts bei Hobbes und Hegel, Hamburg 2012 (Hegel-Studien. Beiheft 56), Kap. 11 („Die Vereinbarkeit von Freiheit und Zwang“); Britta Caspers, ‚Schuld‘ im Kontext der Handlungstheorie Hegels, Hamburg 2012 (Hegel-Studien. Beiheft 58), besonders Kap. 6 („Strafe und Gnade“).
36 GW 14, 1, 270, § 333. — Vgl. hierzu Zwischen Konfrontation und Integration. Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant, hg. v. A. Arndt und J. Zovko, Berlin 2007.
37 GW 18, 153.
38 GW 14, 1, 175, § 209, Erläuterung.
39 Ebd., 217 (Anm. 1 zur Erläuterung).
40 Vgl. Andreas Arndt, „Zum Problem der Menschenrechte bei Hegel und Marx“, in: Menschenrechte: Rechte und Pflichten in Ost und West, hg. v. K. Wegmann u.a., Münster 2001, 213—236.
41 Zu Hegels spezifischer Verwendung von ‚abstrakt‘ vgl. Andreas Arndt: „Wer denkt
abstrakt? Konkrete Allgemeinheit bei Hegel“, in: Konkrete Psychologie. Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt, hg. v. G. Jüttemann und W. Mack, Lengerich u.a. 2010, 127—137.
42 Diese Formulierung verwendet Karl Marx in seiner Dissertation in ironischer Anspielung auf Hegels Bild von der Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt; vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 40, Berlin 1973, 217: „So war z.B. die epikureische, stoische Philosophie das Glück ihrer Zeit; so sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist, das Lampenlicht des Privaten.“
43 Vgl. Andreas Arndt: „Wandlungen in Hegels Bild des Judentums“, in: Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, hg. v. R. Barth u.a., Berlin und Boston 2012, 417—429.
44 GW 14, 1, 115, § 132, Erläuterung.
45 Ebd., 135, § 141 und Erläuterung.
46 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/Main 1979, 349.
47 Ludwig Siep, „Was heißt: ‚Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit‘ in Hegels Rechts- philosophie?“, in: (ders.) Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/Main 1992, 217—239. — Vgl. auch Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationell. Hegel et l’esprit objectif, Paris 2007, Chaiptre X („La vérité de la moralité”).
48 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818—1831, hg. v. K.-H. Ilting, 4 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1973f., Bd. 4, 416 (Nachschrift Griesheim 1824/25).
49 GW 14, 1, 143, § 157. — Vgl. dazu GW 14, 2, 727: „Reflexion — Recht — Moralität — abstracte Momente — Herabfallen in die Besonderheit […] Dem Particularen (Abstracten—) Form der Allgemeinheit — nur Form“. 50 Vgl. GW 14, 1, 165, § 189.
51 Vgl. GW 14, 1, 164 und 174, §§ 188 und 208.
52 GW 4, 451f.
53 Ebd.
54 GW 14, 1, 201, § 258, Erläuterung.
55 Ebd., 195, § 246.
56 Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Konstanz 2011.
57 GW 14, 1, 194, § 244.
58 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannenmann, hg. v. C. Becker u.a., Hamburg 1983, 129.
59 GW 14, 1, 193, § 243.
60 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22, hg. v. H. Hoppe, Frankfurt/Main 2005, 222.
61 Ebd., 222f.
62 Vgl. GW 14, 1, 198, § 253: „So ist auch anerkannt, daß es [das Mitglied der Korporation, Verf.] einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gemeinschaft ist, angehört und für den uneigennützigern Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemühung hat: — es hat so in seinem Stande seine Ehre.“
63 Ebd., § 254.
64 Vgl. ebd., 165, § 189, wo Hegel das System der Bedürfnisse als Verstandessystem beschreibt.
65 Ebd., 201, § 258.
66 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hg. v. H. Klenner, Berlin 1981, 318, § 273, Zusatz.
67 Rolf Henrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Reinbek 1989.
68 Vgl. Honneth, Das Recht der Freiheit, a.a.O. (Anm. 29), 232ff.
69 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin 1968 (Karl Marx und Friedrich Engels, Werke), 791.