
Peter Ostertag, Salzburg
Rezension: Thomas Metscher, Kunst - Ein geschichtlicher Entwurf, Berlin 2012
Logik des Begriffs
Das Buch ist kein Lehrbuch, das verschiedene Auffassungen oder Schulen zum Begriff der Kunst lediglich aufführt. Metschers Absicht ist es, einen Begriff der Sache zu gewinnen, der gleichzeitig historisch und systematisch ist, also die innere Logik des Begriffs Kunst entwickelt: ein dialektischer Ansatz also.
Metscher unternimmt den Versuch, den Kunstbegriff in einem Gesamtzusammenhang zu denken, ästhetische Theorie als Teil einer philosophischen Theorie, sowie als Teil einer geschichtlichen Gesamtbewegung. Solche Versuche sind heute selten, und Hegels System ist natürlich Metschers erster Bezugspunkt. Metscher vermutet, dass ganz allgemein der Anspruch, den Gesamtzusammenhang zu denken, in der Philosophie heute nur noch im Rahmen des Marxismus möglich ist (S. 73), also mit Hegel über Hegel hinaus, diesen eben vom Kopf auf die Füße gestellt.
Kunst hat es nicht immer gegeben, jedenfalls nicht im heutigen Sinn. Metscher zeichnet die Entwicklung dieser Sphäre zu einem autonomen Sektor über die Jahrhunderte nach, wie eine ästhetische Produktivkraft sich von den Anfängen in der Vorzeit über die Antike bis heute, zur Kunst im imperialistischen Zeitalter, entwickelt hat.
Die Kürze der Darstellung ist hier durchaus ein Vorteil: sie schafft einen Überblick und bewahrt die Leserin davor, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Gelegentlich merkt man dem Buch an, dass einzelne Teile zusammengestellt wurden: doch die Überschneidungen und Wiederholungen schaffen sogar so etwas wie Eindringlichkeit.
An manchen Stellen freilich wünschte sich der Leser dann doch Aufklärung über die Details, etwa wenn Metscher die „verheerenden Folgen in Gestalt der ästhetischen Inszenierungen des Faschismus“ (S. 68) erwähnt, aber nicht näher ausführt.
Sinnliche Selbstkonstitution des Menschen
Metschers Kunstauffassung orientiert sich ausdrücklich an Marx‘ und Engels‘ Ideen. Die beiden Gründerväter des Marxismus haben freilich keine explizite Kunsttheorie entworfen. Es finden sich in ihren Werken jedoch viele Hinweise und Anregungen für eine solche Theorie – und Metscher versucht, sie zu explizieren.
Im Zentrum der Ästhetik steht nicht der ästhetische Gegenstand, sondern Kunst als kulturelle Konstellation und der gesamte Kunstprozess (181). Kunst ist – wie jede menschliche Aktivität – „ein organischer Teil von Gesellschaft, in Produktion und Rezeption in konkrete Weltverhältnisse […] eingebunden und vollständig nur aus diesen zu erfassen“ (207). Mit diesem Ansatz löst Metscher den Anspruch des Untertitels ein („ein geschichtlicher Entwurf“), doch er geht mit Marx und Engels auch darüber hinaus: Kunst ist nur zu begreifen als ein Teil eines Prozesses der Selbstkonstitution des Menschen (S. 178ff, Zusammenhang der gegenständlichen Selbstkonstitution des Menschen S. 83).
Metscher zitiert Marx (aus den Pariser Manuskripten (MEW, EB1, S. 541):
„(…) durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt (…) Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.“
Indem er dergestalt den zivilisatorischen Prozess „als Bildungsgeschichte produktiver menschlicher Organe“ (S. 185) versteht, ist die Geschichte der Kunst, besser: des Kunstprozesses, als ein Teil der Geschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins verstehbar: diese ist Aufklärung, ist „Verdiesseitigung“ (S. 47), weltliche Emanzipation des Bewusstseins, Wissenschaft. Wir sind damit meilenweit von jenem simplen Basis-Überbau-Modell entfernt, das dem Marxismus oft unterstellt wird: ein Überbau (in diesem Fall die Kunst), der von einer (wirtschaftlich-gesellschaftlichen) Basis determiniert wird. Statt dessen spricht Metscher (mit Brecht) von einer „relativen Autonomie […] des ästhetischen Bereichs, da dieser zwar strukturell selbstbestimmt, doch zugleich durch anderes vermittelt, von anderem bestimmt ist; er ist autonom und heteronom zugleich.“ (Hervorhebung von Metscher)
Mimesis und Realismus
Der Begriff Mimesis ist heute aus der Mode gekommen, jedenfalls in der Kunst. Ich habe mich umgehört und festgestellt, dass mimetische Kunst heute sehr eng als bloße Nachahmung verstanden und abgewertet wird. Das geht an Metschers Verständnis des Begriffs sicherlich vorbei, denn sein Mimesis-Begriff steht im Kontext der umfassenden Widerspiegelungstheorie von Hans Heinz Holz, mit dem Metscher eine enge Freundschaft verband (und dem das Buch auch gewidmet ist). Damit eröffnet sich eine Linie der Ästhetik, die mit Aristoteles beginnt und über Leibniz zu Lukács, Benjamin und Adorno und weiter zu Hans Heinz Holz reicht.
Metscher denkt mit Holz Mimesis nicht als Abbild, als bloßes Abziehbild, sondern als Beispielfall des allgemeinen Prinzips der Widerspiegelung. Eine solche Spiegelung ist auf sehr allgemeine Weise zu denken: das mimetische Bild muss keine äußerliche Ähnlichkeit mit dem Objekt haben (bei Walter Benjamin, bei dem die Mimesis eine ähnlich zentrale Rolle spielt, gibt es dazu den Begriff der unsinnlichen Ähnlichkeit), es kann auch abstrakt oder verfremdet sein: „Mimesis und Abstraktion sind keine Gegensätze“ heißt es in Metschers Einleitung zur „Ästhetik der Unterwerfung“.
Die Sache wird klarer, wenn wir Metscher in einer Differenzierung des Mimesisbegriffs folgen (S. 35f): er unterscheidet zwischen (1) der realistischen Mimesis: Kunst als Mimesis des gesellschaftlichen Lebens und Handelns, mit dem bürgerlichen, realistischen Roman als Markenzeichen, (2) der ontischen und (3) der ontologischen Mimesis. Die ontische Mimesis ist tatsächlich die Nachbildung der Natur (imitatio naturae), während die ontologische Mimesis nicht die Phänomene, sondern die Strukturen des Seins widerspiegelt. Die drei Ebenen schließen einander nicht wechselseitig aus, sondern ergänzen einander.
Wenn also Metscher die realistische Kunst rühmt, dann ist damit nicht die bürgerlich-realistische Stilepoche des 19. Jahrhundert gemeint, sondern allgemein welthaltige Kunst im Gegensatz etwa zu rein dekorativer. Realismus wird zum ästhetischen Prinzip (S. 102) als „lebendige Wirklichkeitsdarstellung“ oder gar als „(literarische) Eroberung der Wirklichkeit“ (S. 102). Dass daraus nicht ein sozialistischer Realismus folgen muss, kann man zum Beispiel schon daran erkennen, dass Marx und Engels selbst den Romanen des bourgeoisen Balzac den Vorzug gaben gegenüber jenen des sozial engagierten Victor Hugo.
Die Kunst der Moderne
Der späte Georg Lukács hat die beiden genannten Aspekte, die mimetische Darstellung und die kulturelle Konstitution, zu einer einheitlichen Konzeption auf der Basis seines Mimesisbegriffs zusammengeschlossen.
Neben der elementaren Mimesis kennt Lukács auch die theoretische und die ästhetische Mimesis. Aber entscheidend ist, dass Mimesis auch weltschaffend sein kann (S. 221):
„Kunst erweist sich so als normative Reflexion der Wirklichkeit, dergestalt, dass die mimetische, aber verfremdende Transformation der wirklichen Welt in die andere Welt des Kunstwerks zugleich die Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens der wirklichen Welt in den Blick rückt und zum Eingreifen in die bestehenden Verhältnisse anregt.“ (S. 220)
Beschäftigung mit Kunst ist daher immer „eine Art Archäologie unserer Existenz“ (S. 220), aber eine Archäologie, die auch die Zukunft in den Blick nimmt.
Naturgemäß gibt Metscher auch einen Überblick über die großen Epochen der Kunst, von den vorzeitlichen Anfängen über die Künste (plural!) der Antike, über den Wendepunkt in der Renaissance bis zur Kunst als ästhetische Religion (in und seit der Romantik). Auch hier ist die Kürze nicht unbedingt ein Nachteil, sie schafft Überblick.
Für die Gegenwart diagnostiziert er – dem marxistischen Blickpunkt verpflichtet – die moderne Kunst als Kunst der Krise, der Krise des Imperialismus. Imperialismus verstanden als Stadium des Monopolkapitalismus, in dem Gewalt und Barbarei des Kapitalismus wieder unverhüllt hervortreten.
„Moderne Kunst ist Kunst des imperialistischen Zeitalters, und insofern wir auch heute noch in diesem leben …, ist auch noch die Kunst der Gegenwart Teil einer so verstandenen Moderne.“
Von einer Postmoderne möchte Metscher nicht sprechen, das sei ebenso sinnlos wie die Rede von einer „postimperialistischen Gesellschaft“. Was man gemeinhin als postmoderne Kunst betrachtet, deutet Metscher als Verfallsstufe der Kunst, als ihren ideologischen Verfall (S. 139), als Rückfall in den Irrationalismus. Die Unvollständigkeit, Disparatheit oder Inkohärenz von modernen Kunstwerken setzt Metscher noch in den Rahmen der Moderne: Diese Eigenschaften entstehen, weil sich ein Kunstwerk zu den Widersprüchen, in denen es entsteht, verhalten muss. Ebenso gehören die Pluralität der Formen und Funktionen und die Polyphonie in die Ästhetik der Moderne. Den kulturellen Polyzentrismus, den Metscher als weiteres Charakteristikum der modernen Kunstszene ausmacht, kann ich allerdings nicht nachvollziehen: zu sehr dominieren europäische und amerikanische Kunstschaffende die Szene. Und er scheint mir mit dem Grundcharakter des Imperialismus auch nicht wirklich vereinbar.
Wer tiefer in Metschers Denken einsteigen will, dem sei sein 2010 erschienenes opus magnum „Logos und Wirklichkeit“ empfohlen, das viele der nur gestreiften Themen genauer ausführt. Eine konkrete Studie zu Shakespeare und zum Elisabethanischen Zeitalter mit dem Titel „William Shakespeare. Epochenkrise und Utopie“ kann man im Internet finden (http://www.jungewelt.de/2010/12-24/025.php). Sein Buch über Kunst ist klein und kompakt, mit vielen Ideen und einer einheitlichen (marxistischen) Perspektive auf seinen Gegenstand: es ist mit großem Gewinn zu lesen.