Helmuth Fellner: Die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit bei Marx und Engels

Helmuth Fellner, Wien

Die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit bei Marx und Engels

Der vorliegende Artikel ist der dritte Teil einer umfangreichen Arbeit über den Be- griff der Freiheit bei Karl Marx. In der letzten Ausgabe erschien Teil 2 (Der Begriff der Freiheit bei Marx), in der vorletzten Ausgabe Teil 1 (Das Freiheitsproblem in der bürgerlichen Philosophie vor Marx und Engels). Teil 3 zeigt auf, wie Engels den Begriff der Freiheit gemäß den mit Marx gemeinsamen An- und Einsichten ausar- beitet und die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit freilegt.

Die Fortsetzung der Marxschen Ansichten durch Engels

Zwischen Marx und Engels gab es eine tiefgehende intellektuelle Partnerschaft und Freundschaft. Die konkrete Zusammenarbeit erstreckte sich vom Jahre 1844 bis zum Tode von Karl Marx und umfasste auch das gesamte Spektrum ihrer publizistischen Tätigkeit. Sie schrieben zusammen Bücher, publizierten jeder unter dem Namen des anderen. Engels schrieb zum Beispiel Artikel für die New York Herald Tribune, sie diskutierten und ergänzten jeweils die Werke des anderen. So stammt die Abteilung 10 des II. Kapitels im „Anti-Dühring“ vom Marx; im Vorwort zur 2. Auflage des „Anti-Dühring“ heißt es:

„Da die hier entwickelte Anschauungsweise zum weitaus größeren Teil von Marx begründet und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand es sich unter uns von selbst, dass diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (‚Aus der Kritischen Geschichte’) ist von Marx geschrieben und musste nur, äußerlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden. Es war eben von jeher unser Brauch, uns in Spezialfächern gegenseitig auszuhelfen.“1

Und auch nach dem Tode von Marx war Engels der Verleger von dessen unveröffentlichten Werken und wurde als offizieller Interpret von dessen Gedanken allgemein anerkannt.

Behandelt man nun das Problem der Freiheit in der Marxschen Theorie, so ist es zunächst unvermeidlich, die gemeinsamen Werke von Marx und Engels in die Arbeit einzubeziehen. Dies geschah schon in den vorhergehenden Teilen dieser Arbeit (hier wurde ausführlich das „Manifest der Kommunistischen Partei“, die „Deutsche Ideologie“ und teilweise die „Heilige Familie“ behandelt); kommt man nun zum Kernpunkt der Marxschen Freiheitsauffassung, zum Problem der Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit, so ist es unumgänglich Werke von Engels, wie den „Anti-Dühring“ oder die „Dialektik der Natur“, in diese Arbeit einzubeziehen. Dazu kommt, dass sich in der ganzen Arbeit zum Thema Freiheit nicht der geringste Widerspruch zwischen Marx und Engels erkennen ließ. Bevor genauer auf das Problem Freiheit–Notwendigkeit eingegangen wird, bedarf es jedoch einer kurzen Skizzierung wie Engels an die Marxsche Theorie der Freiheit anschloss.

Engels teilte Marx’ Ansicht, dass Freiheit nicht in der Abwesenheit von Zwang, sondern in der Macht besteht, die den Menschen umgebende soziale und physikalische Umgebung zu beherrschen. Dieser zentrale Punkt seiner Auffassung ist dargelegt in der gemeinsam mit Marx verfassten „Deutschen Ideologie“ und besonders im „Anti- Dühring“ und in der „Dialektik der Natur“. Im „Anti-Dühring“ führt Engels aus, dass Freiheit nicht in der Unabhängigkeit von der Natur, sondern vielmehr „in der Kontrolle über uns selbst und über die äußere Natur“ besteht.2 Und in der „Dialektik der Natur“ arbeitet er genau heraus, dass diese Beherrschung der Natur der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier ist:

„Kurz, das Tier benutzt die äußere Natur bloß und bringt Änderungen in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt.“3

In den meisten Passagen seiner Schriften, in denen Engels die Freiheit behandelt, weist er nicht auf eine psychologische Charakteristik des Individuums hin, sondern auf die tatsächliche historische Vollendung der Menschheit. Diese ist der Kontrolle des Menschen über seine eigene Entwicklung, die durch die Vervollkommnung der Technologie und durch die Anwendung von verschiedenen sozialen Techniken erreicht wird, zuzuschreiben. Und Engels ist geradezu fasziniert von der Entwicklung der Technik und von den Auswirkungen dieser Entwicklung auf das konkrete menschliche Leben.

Am Beginn der Geschichte stand die Entdeckung, dass „mechanische Bewegung in Hitze transformiert werden kann“4, d.h. dass Feuer durch Reibung erzeugt werden kann. Diese Entdeckung hatte große Auswirkung auf die Befreiung der Menschheit von der Beherrschung durch die Natur, weil es dem Menschen damit zum ersten Mal gelang, eine Naturkraft zu kontrollieren, und weil damit der erste Schritt zur Beherrschung der Natur durch den Menschen getan war. Das war zugleich der erste gewaltige Schritt vorwärts in der menschlichen Entwicklungsgeschichte.

Eine weitere welterschütternde Erfindung war die Dampfmaschine, und damit die Möglichkeit, Wärme in mechanische Bewegung umzusetzen. Aber die Dampfmaschine werde nie einen so gewaltigen Sprung in der Menschheitsentwicklung zustande bringen, wie die Entdeckung des Reibfeuers, „so sehr sie uns auch als Repräsentantin aller jener an sie sich anlehnenden gewaltigen Produktivkräfte gilt, mit deren Hilfe allein ein Gesellschaftszustand ermöglicht wird, worin es keine Klassenunterschiede, keine Sorgen um die individuellen Existenzmittel mehr gibt, und worin von wirklicher menschlicher Freiheit, von einer Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen, zum ersten Mal die Rede sein kann.“5

Die Kontrolle der Menschen über ihre soziale Organisation entwickelt sich nicht linear mit dem technischen Fortschritt. Sie entwickelt sich dialektisch, d.h. sie muss zuerst negiert werden, um als höhere positive Form zu erscheinen.

Von den ersten primitiven Gruppierungen des Menschen bis zum Monopolkapitalismus stempelt die Arbeitsteilung die Gesellschaft mit unvermeidlichen Kennzeichen: Ausbeutung, Klassenunterschiede, Klassenkampf usw… Die Menschen haben zunächst wenig Kontrolle darüber. Die Kontrolle vermindert sich sogar bis zur Etappe der Warenproduktion; totale Anarchie der Produktion regiert und führt schließlich zum Untergang des ganzen Systems:

„Es ist die treibende Kraft der gesellschaftlichen Anarchie der Produktion, die die große Mehrzahl der Menschen mehr und mehr in Proletarier verwandelt, und es sind wieder die Proletariermassen, die schließlich der Produktionsanarchie ein Ende machen werden. Es ist die treibende Kraft der sozialen Produktionsanarchie, die die unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der Maschinen der großen Industrie in ein Zwangsgebot verwandelt für jeden einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie mehr und mehr zu vervollkommnen, bei Strafe des Untergangs.“6

Der Umschwung kommt mit der Besitznahme der Produktionsmittel durch das Proletariat; die gesellschaftliche Anarchie der Produktion wird in einem dialektischen Sprung in ihr Gegenteil transformiert:

„Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über den Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige, bewusste Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet, der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche.“7

Die Organisation der Produktion macht es möglich, dass die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens des Menschen unter seiner Kontrolle ist. Somit erhält also die Menschheit ihre letzte und wahre Freiheit, wenn die technologische, die wissenschaftliche Revolution durch die soziale Revolution vervollkommnet wird. Dann wird der Mensch der wahre Beherrscher der Natur sein.

„Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und verwandelt Kraft dieser Gewalt die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch diesen Akt befreit es die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihrem gesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen. Eine gesellschaftliche Produktion nach vorherbestimmtem Plan wird nun mehr möglich. Die Entwicklung der Produktion macht die fernere Existenz verschiedner Gesellschaftsklassen zu einem Anachronismus. In dem Maß wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staates ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eigenen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.“8

Doch nicht nur in der Charakterisierung der Freiheit als Erlangen der Macht über die Natur und die Gesellschaft durch den Menschen stimmen Marx und Engels überein. Auch in der anthropologischen Charakterisierung der Freiheit als menschliche Selbstrealisierung, als Realisierung der menschlichen Potenzen bestätigt Engels ausdrücklich die Marxschen Ansichten. Im „Anti-Dühring“, im III. Kapitel, wo Engels über Produktion und produktive Arbeit schreibt, decken sich seine Formulierungen über die menschliche Freiheit sogar fast wortwörtlich mit den Äußerungen Marx’:

„Indem sich die Gesellschaft zur Herrin der sämtlichen Produktionsmittel macht, um sie gesellschaftlich planmäßig zu verwenden, vernichtet sie die bisherige Knechtung des Menschen unter ihre eigenen Produktionsmittel. Die Gesellschaft kann sich selbstredend nicht befreien, ohne dass jeder einzelne befreit wird. Die alte Produktionsweise muss also von Grund aus umgewälzt werden, und namentlich muss die alte Teilung der Arbeit verschwinden. An ihre Stelle muss eine Organisation der Produktion treten, in der einerseits kein einzelner seinen Anteil an der produktiven Arbeit, dieser Naturbedingung der menschlichen Existenz, auf andere abwälzen kann; in der andererseits die produktive Arbeit, statt Mittel der Knechtung, Mittel der Befreiung wird, indem sie jedem einzelnen die Gelegenheit bietet, seine sämtlichen Fähigkeiten, körperliche wie geistige, nach allen Richtungen hin auszubilden und zu betätigen, und in der sie so aus einer Last eine Lust wird.“9

Freiheit und Notwendigkeit

Marx und Engels gehen davon aus, dass zwischen Freiheit und Notwendigkeit eine dialektische Wechselbeziehung besteht und nicht das Verhältnis sich ausschließender Gegensätze. Freiheit ist keine Eigenschaft einer abstrakten Persönlichkeit. Sie wird dem Menschen auch nicht durch eine vermeintliche höhere Macht verliehen, sondern stellt sich in erster Linie als das Verhältnis des Menschen zu den objektiven Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft dar, insbesondere als der Grad der Erkenntnis und der praktischen Beherrschung dieser Gesetze. Die Notwendigkeit ist in jedem Falle die Voraussetzung der Freiheit. Sie hört auf, blind zu wirken, wenn das Notwendige erkannt und gewollt wird und die Menschen ihr zweckmäßiges Handeln danach richten. Deshalb führt Engels aus:

„Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“10

Aus dieser Beziehung zur Notwendigkeit ergibt sich zwangsläufig, dass die Freiheit eine historische Kategorie ist: Das Verhältnis des Menschen zur objektiven Determiniertheit des Geschehens in der Realität besitzt auf den einzelnen Entwicklungsetappen der menschlichen Gesellschaft unterschiedliches Niveau.

Das reale Maß an verfügbarer Freiheit wird sowohl gegenüber der Natur als auch innerhalb der Gesellschaft letztlich durch den Stand der Produktivkräfte sowie durch den Charakter der Produktions- und Machtverhältnisse determiniert.

„Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit.“11

Im Ringen um eine ständig höhere Stufe der Freiheit stand zunächst der Kampf der Menschen gegen die Elementargewalten der Natur im Vordergrund. Ihre Beherrschung nahm mit der Entwicklung der Produktivkräfte ständig zu. Dagegen wurden in der Klassengesellschaft die Verhältnisse der Ausbeutergesellschaft und die in ihr spontan-wirkenden gesellschaftlichen Gesetze immer mehr zum entscheidenden Hemmnis für die Freiheit der Menschen. Erst im Sozialismus/Kommunismus kommt es im Hinblick auf die natürlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten zu einer harmonischen Entfaltung der menschlichen Freiheit. Aus den Ausführungen von Marx und Engels ist also zu entnehmen, dass die Freiheit stets konkret-historisch bestimmt ist. Mit der gesellschaftlichen Entwicklung ändern sich der Inhalt der Freiheit und die Ziele der jeweiligen Freiheitsbestrebungen. Die Menschheit kennt keine abstrakte und unwandelbare Freiheit. Der Freiheitsbegriff von Marx und Engels erstreckt sich auf alle besonderen Aspekte, in denen Freiheit in Erscheinung tritt (ökonomische, politische, moralische Freiheit usw.).

Dies gilt auch für die Willensfreiheit. Der Wille als Element des Bewusstseins und die menschliche Entscheidung fallen jedoch nicht aus der allgemeinen Determiniertheit der Realität heraus:

„Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen die vielen verschiedenen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie gerade beherrschen sollte.“12

Die Freiheit des Willens hängt also davon ab, wie genau die objektiven Gesetze widerspiegelt werden. Je größer die Genauigkeit, umso mehr erweitert sich die Möglichkeit der Freiheit. Auch die Willensfreiheit ist mit der Notwendigkeit verknüpft; echte Entscheidungsfreiheit ist auf die Verwirklichung realer Möglichkeiten gerichtet. Freiheit ist also die Einsicht in die Notwendigkeit und Entscheidung mit Sachkenntnis zum Zwecke des aktiven Handelns entsprechend der getroffenen Entscheidung. Damit wird die Freiheit von objektiver Willkür und von der Verwandlung in eine leere Fiktion abgegrenzt. Die Freiheitsauffassung von Marx und Engels, wonach Freiheit als Erkenntnis und Beherrschung der objektiven Gesetzmäßigkeit in Natur und Gesellschaft verstanden werden muss, schließt ein, dass Freiheit immer gesellschaftlichen Charakter besitzt.

Freiheit ist ein konkretes soziales Verhältnis; sie kann nur gesellschaftlich und nicht durch ein isoliert vorgestelltes Individuum realisiert werden. Wenn Marx und Engels erklären, dass sich die Freiheit historisch entwickle, so bedeutet das nicht, dass sie einen kontinuierlich (im marxistischen Sinn) aufwärtsführenden Prozess darstellt. Ihre Geschichte ist widersprüchlich und weist mitunter auch rückläufige Momente auf.

Freiheit als umfassendes, durch keine Klassenwidersprüche mehr eingeschränktes gesellschaftliches Phänomen wird erst im Sozialismus/Kommunismus möglich.

„Die eigene Vergesellschaftung des Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Gesellschaft oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“13

Erst mit der Erkenntnis der Notwendigkeit, mit der bewussten Ausnutzung der gesellschaftlichen Gesetze und der Schaffung der notwendigen Bedingungen für ihre volle Durchsetzung, vollziehen die Menschen den Sprung in das Reich der Freiheit.

Zufälligkeit herrscht zwischen Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang so gering ist, dass er vernachlässigt werden kann. Wenn der Mensch sich frei fühlt, willkürlich handeln zu können und sich nicht an der ihn bestimmenden inneren Gesetzlichkeit ausrichtet, so gewinnt er dabei nur einen Schein der Freiheit, da kein Zusammenhang des Geschehens, der ihm als Zwang erscheinen könnte, gegeben ist. In Wahrheit steht er unter einem größeren Zwang, da die Ursachen für sein Handeln in für den Menschen gleichgültigen, äußerlichen Gegebenheiten bestehen.

„Der Unterschied des persönlichen Individuums gegen das Klasseindividuum, die Zufälligkeit der Lebensbedingungen für das Individuum tritt erst mit dem Auftreten der Klasse (ein), die selbst ein Produkt der Bourgeoisie ist. Die Konkurrenz und der Kampf (der) Individuen untereinander erzeugt und entwickelt erst diese Zufälligkeit als solche. In der Vorstellung sind daher die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert.“14

Die Anerkennung zufälliger Ereignisse, die sich nicht auf notwendige reduzieren lassen, unterscheidet die Auffassungen von Marx und Engels vom mechanischen Determinismus; für alle Materialisten vor Marx war die Identifizierung von Notwendigkeit und Kausalität charakteristisch. Engels unterzog diese Auffassung in seiner “Dialektik der Natur” einer eingehenden Kritik und legt in dieser Kritik seine und Marx’ Positionen dar:

„Dementgegen tritt der Determinismus, der aus dem französischen Materialismus in die Naturwissenschaft übergegangen und der mit der Zufälligkeit fertig zu werden sucht, indem er sie überhaupt ableugnet. Nach dieser Auffassung herrscht in der Natur nur die einfache direkte Notwendigkeit. Dass diese Erbsenschote fünf Erbsen enthält und nicht vier oder sechs, dass der Schwanz dieses Hundes fünf Zoll lang ist und nicht eine Linie länger oder kürzer, dass diese Kleeblüte dies Jahr durch eine Biene befruchtet wurde und jene nicht, und zwar durch diese bestimmte Biene und zu dieser bestimmten Zeit, dass dieser bestimmte verwehte Löwenzahn aufgegangen ist und nicht jener, dass mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um drei oder fünf, und zwar auf die rechte Schulter nicht aber auf die linke Wade, alles das sind Tatsachen, die durch eine unverrückbare Verkettung von Ursache und Wirkung, durch eine unerschütterliche Notwendigkeit hervorgebracht sind, so zwar, dass bereits der Gasball, aus dem das Sonnensystem hervorging, derart angelegt war, dass diese Ereignisse sich so und nicht anders zugetragen mussten. Mit dieser Art Notwendigkeit kommen wir auch nicht aus der theologischen Naturauffassung heraus. Ob wir das den ewigen Ratschluss Gottes mit Augustin und Calvin, oder mit den Türken das Kismet, oder aber die Notwendigkeit nennen, bleibt sich ziemlich gleich für die Wissenschaft. Von einer Verfolgung der Ursachenkette ist in keinem dieser Fälle die Rede, wir sind also so klug im einen Fall wie im anderen, die sog. Notwendigkeit bleibt eine leere Redensart, und damit bleibt auch der Zufall, was er war. Solange wir nicht nachweisen können, worauf die Zahl der Erbsen in der Schote beruht, bleibt sie eben zu-fällig, und mit der Behauptung, dass der Fall bereits in der ursprünglichen Konstitution des Sonnnensystems vorgesehen sei, sind wir keinen Schritt weiter. Noch mehr. Die Wissenschaft, welche sich daran setzen sollte, den casus dieser einzelnen Erbsenschote in seiner Kausalverkettung rückwärts zu verfolgen, wäre keine Wissenschaft mehr, sondern pure Spielerei; denn dieselbe Erbsenschote allein hat noch unzählige andre, individuelle, als zufällig erscheinende Eigenschaften, Nuance der Farbe, Dicke und Härte der Schale, Größe der Erbsen, von den durch das Mikroskop zu enthüllenden individuellen Besonderheiten gar nicht zu reden. Die Eine Erbsenschote gäbe also schon mehr Kausalzusammenhänge zu verfolgen, als alle Botaniker der Welt lösen könnten. Die Zufälligkeit ist also hier nicht aus der Notwendigkeit erklärt, die Notwendigkeit ist vielmehr heruntergebracht auf die Erzeugung von bloß Zufälligem.“15

Der dialektische Materialismus von Marx und Engels widerlegt die idealistische Auffassung vom Zufall als ursachlosen Prozess, indem er den Zusammenhang zwischen Notwendigkeit und Zufall betont und damit die Existenz von Kausalzusammenhängen auch den Zufall als zutreffend unterstreicht. Es gibt keinen Prozess, in dem sich nicht die Ursache-Wirkungs-Beziehung in konkreten Zusammenhängen vollziehen würden. Marx und Engels haben die Auffassung des mechanischen Materialismus überwunden, der davon ausging, dass Notwendigkeit und Zufall sich gegenseitig ausschließen. Zufall und Notwendigkeit sind objektiv und nicht aufeinander reduzierbar.

Notwendigkeit ist die Bestimmtheit der Verwirklichung bestimmter Möglichkeiten auf der Grundlage von Kausalbeziehungen, die mit der inneren Natur, dem Wesen des Prozesses, in Beziehung stehen. Zufall ist ein entfernter und äußerer Zusammenhang von Ursache-Wirkungs-Relationsreihen; ihre Abfolge begründet sich nicht gegenseitig und ist deshalb auch nicht der Schnittpunkt zweier oder mehrerer Kausalketten. Zufall und Notwendigkeit befinden sich stets in einer dialektischen Einheit und bilden zwei Pole im allgemeinen Netz der Zusammenhänge, die in Natur und Gesellschaft existieren. Diese Einheit drückt sich in verschiedenen Beziehungen aus; die wichtigste von ihnen aber ist: Der Zufall ist die Erscheinungsform der Notwendigkeit und ergänzt dieselbe.

Auch in der Geschichte setzt sich das Gesetzmäßige in Form vieler Zufälligkeiten durch. Indem die zahllosen Handlungen der einzelnen Individuen sich gegenseitig durchkreuzen und in ihnen viele Zufälligkeiten auf Grund von hunderterlei persönlicher Motive und Umstände mitspielen, vollziehen sich dabei bestimmte massenhafte gesetzmäßige zu erfassende Prozesse, die wieder im Ganzen einen notwendigen, gesetzmäßigen Gesamtprozess der gesellschaftlichen Entwicklung ergeben.

„Wo aber auf der Oberfläche der Zufall sein Spiel treibt, da wird er stets durch innere verborgene Gesetze beherrscht, und es kommt nur darauf an, diese Gesetze zu entdecken.“16

Aber das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufälligkeit erschöpft sich nicht darin, dass die Zufälligkeit bloße Form der Notwendigkeit ist. Vielmehr kann das Zufällige auch auf das Notwendige in bestimmtem Grade zurückwirken, seinerseits den Verlauf der Ereignisse beeinflussen.

Wie Marx schreibt, wäre die Geschichte „sehr mystischer Natur, wenn ‚Zufälligkeiten’ keine Rolle spielten.“ Und er fährt fort:

„Diese Zufälligkeiten fallen natürlich selbst in den allgemeinen Gang der Entwicklung und werden durch andere Zufälligkeiten wieder kompensiert. Aber Beschleunigung und Verzögerung sind sehr von solchen ‚Zufälligkeiten’ abhängig – unter denen auch der ‚Zufall’ des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehn, figuriert.“17

Nehmen wir als Ausgangspunkt dieser Frage die bekannte und bereits zitierte Stelle aus dem „Anti-Dühring“:

„Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. ‘ Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird. ‘ Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“18

Die Freiheit des Menschen besteht also darin, sich selbst als wirkendes Wesen zu setzen, seine Individualität in der Verwirklichung seiner selbst geltend zu machen und eben dazu die Gesetze, unter denen er steht, als seine eigenen Gesetze zu begreifen, zu bejahen, damit sich selbst zu bejahen und tätig in der Erfüllung dieser Gesetze sich selbst zu verwirklichen. Die Trennung von subjektiv begriffenen und objektiv vorhandenen Gesetzen verschwindet und damit auch das Missverhältnis zwischen Vorhaben und tatsächlicher Verwirklichung beziehungsweise Erfolg in dem Maße, wie der Mensch die Bedingungen seines Handelns einsieht und das Ziel der notwendigen Entwicklung begreift.

„Es handelt sich daher auch nicht um die Verwirklichung dieser oder jener Meinung, dieser oder jener politischen Idee; es handelt sich um die Einsicht in den Gang der Entwicklung.“19

Das objektive Gesetz, dass der Mensch die Natur zu bezwingen hat, gilt auch hier. Die innere Gesetzlichkeit des Arbeitsprozesses muss erkannt werden, führt jedoch nur zur Beherrschung desselben durch den Menschen, wenn die ökonomischen Bedingungen reif dazu sind:

„Die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat, seit dem geschichtlichen Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, einzelnen wie ganzen Sekten öfters mehr oder weniger unklar als Zukunftsideal vorgeschwebt. Aber sie konnte erst möglich, erst geschichtliche Notwendigkeit werden, als die materiellen Bedingungen ihrer Durchführung vorhanden waren. Sie, wie jeder andere gesellschaftliche Fortschritt, wird ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, dass das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klassen abzuschaffen, sondern durch gewisse ökonomische Bedingungen.“20

Die Frage nach dem freien Willen des Menschen und daraus folgend die Frage nach der freien Handlung des Menschen stand immer im Mittelpunkt philosophischer Diskussionen: Ist der Wille des Menschen determiniert durch äußere kausale Faktoren oder sind die Menschen in der Lage die Richtung ihrer eigenen Tätigkeit selbst zu bestimmen? Von Marx wird oft behauptet, dass er der ersteren Ansicht war. Doch schon die Fragestellung in dieser Form und die Ausschließung eines dialektischen Verhältnisses von objektiver Determiniertheit und Willensfreiheit werden dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels nicht gerecht. Marx erklärt, dass, obwohl jegliche Tätigkeit von objektiven ökonomischen Faktoren determiniert ist, die Richtung des Willens des Individuums – seine Wahlmöglichkeiten – determiniert ist durch Faktoren, die unter seinem Einfluss stehen. Er warnt aber davor, „die sachliche Natur der Verhältnisse zu übersehen und alles aus dem Willen der handelnden Personen zu erklären.“21

Wodurch ist nun der Wille des Menschen determiniert? Zunächst durch ökonomische Faktoren:

„Die soziale Macht, d.h. die vervielfachte Produktionskraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dieses Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“22

Und daraus folgend ist der Wille des Menschen auch durch seine soziale Stellung determiniert; dazu ein Zitat aus „Das Elend der Philosophie“:

„Der Konsument ist nicht freier als der Produzent. Seine Meinung hängt ab von seinen Mitteln und Bedürfnissen. Beiden werden durch seine soziale Lage bestimmt, die wiederum selbst abhängt von der allgemeinen sozialen Organisation. Allerdings der Arbeiter, der. Kartoffel kauft, und die ausgehaltene Mätresse, die Spitzen kauft, folgen beide nur ihrer respektiven Meinung; aber die Verschiedenheit ihrer Meinung erklärt sich aus der Verschiedenheit der Stellung, die sie in der Welt einnehmen und die selbst wieder ein Produkt der sozialen Organisation ist.“23

Wenn der dialektische Materialismus von Marx und Engels davon ausgeht, dass alle Erscheinungen, Dinge und Prozesse dieser Welt, das Bewusstsein, als Funktion der höchstentwickelten Materie, des Gehirns eingeschlossen, determiniert sind von objektiven Gesetzen, so gilt dies auch für den Willen, als Erscheinung des Bewusstseins. Rufen wir uns noch einmal das bekannte Zitat aus dem „Anti-Dühring“ in Erinnerung:

„Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil des Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein, während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen verschiedenen Möglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie gerade beherrschen sollte.“24

Und an einer anderen Stelle geht es um den individuellen Willen: dabei unterscheidet er zwei Aspekte, den formalen Aspekt und den inhaltlichen. Der letztere bezeichnet die aktuelle, konkrete Spezifizierung des Willens, die Typen von Entscheidungen, die tatsächlichen Richtungen, die der Wille den Subjekten gibt. Die formalen Charakteristika beschreiben dagegen den menschlichen Willen im allgemeinen. Formaler und inhaltlicher Aspekt sind jedoch nicht zu trennen.

„Wie beim einzelnen Menschen alle Triebkräfte seiner Handlungen durch seinen Kopf hindurchgehn, sich in Beweggründe seines Willens verwandeln zu müssen, um ihn zum Handeln zu bringen, so müssen auch alle Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft – gleichviel, welche Klasse gerade herrscht – durch den Staatswillen hindurchgehn, um allgemeine Geltung in Form von Gesetzen zu erhalten. Das ist die formelle Seite der Sache, die sich von selbst versteht; es fragt sich nur, welchen Inhalt dieser nur formelle Wille – des einzelnen wie des Staates – hat, und woher dieser Inhalt kommt, warum gerade dies und nicht andres gewollt wird. Und wenn wir hiernach fragen, so finden wir, dass in der modernen Geschichte der Staatswille im ganzen und großen bestimmt wird durch die wechselnden Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Übermacht dieser oder jener Klasse, in letzter Instanz durch die Entwicklung der Produktivkräfte und der Austauschverhältnisse.“25

Was bedeutet das bisher Gesagte für die Struktur der freien Handlung?

Es ist also nicht nur Einsicht und Kenntnis allein, die die Freiheit bestimmen, sondern die Kenntnis und der Inhalt, den sie einer bestimmten Art von Aktivität gibt. Später hat Engels die Art der praktischen Tätigkeit genauer definiert: die Naturgesetze für die Ausführung bestimmter Zwecke arbeiten zu lassen. Die Kontrolle des Menschen über seine Entwicklung wird realisiert, indem der Mensch, der ja nicht frei von der Natur sein kann, diese durch die Macht der Erkenntnis und der darauf basierenden Handlung in seinen Dienst stellt, für sein Wohlergehen und seine Entfaltung nutzt.

Reich der Notwendigkeit — Reich der Freiheit

Zur Charakterisierung dessen, was die Überwindung des „Reichs der Notwendigkeit“ und der Sprung in das „Reich der Freiheit“ für den Menschen bedeutet, gibt es keine sehr ausführlichen Belegstellen, weder bei Marx noch bei Engels. Marx und Engels verstanden sich ja immer als wissenschaftliche Sozialisten, die aus den gegebenen gesellschaftlichen, vor allem ökonomischen Bedingungen die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Veränderung der Gesellschaft erarbeiteten. Der gesellschaftliche Zustand, der mit dem Kommunismus erreicht wird, ist daher auch nicht Gegenstand breiter Erörterung, sondern wird nur dort angedeutet, wo sich aus bisherigen Entwicklung der Gesellschaft, beziehungsweise aus dem realen Zustand der erreichten gesellschaftlichen Stufe, notwendige Aussagen für die Zukunft machen lassen. Das „Reich der Freiheit“ baut auf dem „Reich der Notwendigkeit“ auf: Das objektive Gesetz, dass der Mensch die Natur zu beherrschen hat, gilt auch hier. Den großen Unterschied zur bisherigen Geschichte bildet die Erkenntnis der inneren Gesetzlichkeit des Arbeitsprozesses, und damit beherrscht der Mensch den Arbeitsprozess statt dass jener ihn beherrscht.

Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die planmäßige Organisation der Produktion hebt die „Anarchie der gesellschaftlichen Produktion“ auf, meint Engels im „Anti-Dühring“. Und damit ist ein entscheidender Schritt gesetzt. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf, der Mensch tritt aus dem Tierreich in wirkliche menschliche Lebensbedingungen.

„Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht.

Die eigne Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“26

Das „Reich der Freiheit“ setzt also voraus, dass die Entfremdung des Menschen und seine Selbstentfremdung aufgehoben sind, dass seine Produktion nicht mehr ausschließlich durch Not und Zweckmäßigkeit bestimmt wird, dass der Mensch Herr über seine individuelle wie über die gesellschaftliche Entwicklung ist.

Im dritten Band des „Kapital” hat Marx dieses Problem noch ausführlicher behandelt:

„Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also in der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihrer gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber dies bleibt immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.“27

Die Dialektik zwischen Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit ist also eine doppelte: zunächst historisch gesehen, da die Erreichung eines gesellschaftlichen Zustandes, indem sich das Reich der Freiheit verwirklichen lässt, eine Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft, eine Aufhebung der Anarchie der gesellschaftlichen Produktion, eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel usw. verlangt. Und zweitens bleibt die Dialektik zwischen Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit auch dann bestehen, als Dialektik zwischen der Sphäre der materiellen Produktion und der Sphäre der Freizeit.

Marx geht aber davon aus, dass sich der unterdrückende Charakter der Arbeit immer mehr reduzieren lässt und dass das „Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, (die) selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit.“28

Und weiter bemerkt Marx in den „Grundrissen“:

„Dass übrigens die unmittelbare Arbeitszeit selbst nicht in dem abstrakten Gegensatz zu der freien Zeit bleiben kann wie sie vom Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie aus erscheint – versteht sich von selbst. Die Arbeit kann nicht Spiel werden, wie Fourier will, dem das große Verdienst bleibt die Aufhebung nicht der Distribution, sondern der Produktionsweise selbst in höherer Form als ultimative object ausgesprochen zu haben. Die freie Zeit – die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein anderes Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozess. Es ist dieser zugleich Disziplin. Mit Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet, wie Ausübung, Experimentalwissenschaft materiell schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft mit Bezug auf den gewordnen Menschen, in dessen Kopf das akkumulierte Wissen der Gesellschaft existiert.“29

Die Überwindung des „Reichs der Notwendigkeit“ durch das „Reich der Freiheit“, d.h. die Überwindung der Klassengesellschaft durch die klassenlose Gesellschaft, den Kommunismus, bedeutet für die Menschen zunächst in der Sphäre der materiellen Produktion Überwindung der Entfremdung und Selbstentfremdung der bürgerlichen „Anarchie der Produktion“, und damit die volle Entfaltung der Produktivkräfte, die Herrschaft des Menschen über die Natur. In der Sphäre der Freizeit, d.h. besser gesagt in der Sphäre jenseits der unmittelbaren materiellen Produktion, entwickelt sich eine volle Entfaltung der im Menschen angelegten schöpferischen Potenzen, die wiederum auf die Sphäre der materiellen Produktion rückwirken. Diese beiden Sphären sind jedoch nicht als mechanisch nebeneinander stehend zu betrachten, sondern als sich gegenseitig ergänzende, als dialektisch verbundene Bereiche des menschlichen Lebens.

Endnoten

1 Engels, Friedrich: Anti-Dühring in: MEW 20, 9.

2 Ebd. 106.

3 Engels, Friedrich: Dialektik der Natur in: MEW 20, 452.

4 Engels, Friedrich: Anti-Dühring in: MEW 20, 106.

5 Ebd. 107.

6 Ebd. 255.

7 Ebd. 264.

8 Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft in MEW: 19, 228

9 Engels, Friedrich: Anti-Dühring in: MEW 20, 273f.

10 Ebd. 106.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Deutsche Ideologie in MEW 3, 76

14 Ebd.

15 Engels, Friedrich: Dialektik der Natur in: MEW 20, 487 f.

16 Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie in: MEW 21, 297.

17 Marx, Karl: Brief an Kugelmann in: MEW 33, 209.

18 Engels, Friedrich: Anti-Dühring in: MEW 20, 106.

19 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Programm der radikal-demokratischen Partei und der Linken zu Frankfurt in: MEW 5, 42.

20 Engels, Friedrich: Anti-Dühring in: MEW 20, 262.

21 Marx, Karl: Rechtfertigung des Korrespondenten von der Mosel in: MEW 1, 177.

22 Marx, Karl und Engels, Friedrich: Deutsche Ideologie in: MEW 3, 34.

23 Marx, Karl: Das Elend der Philosophie in: MEW 4, 75.

24 Engels, Friedrich: Anti-Dühring in: MEW 20, 106.

25 Ludwig Feuerbach und der Ausgang der Klassischen deutschen Philosophie in: MEW 21, 300.

26 Engels, Friedrich: Anti-Dühring in: MEW 20, 264.

27 Marx, Karl: Kapital III in: MEW 25, 828.

28 Marx, Karl: Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Dietz Verlag. Berlin 1974, 599.

29 Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 599 f.