I. Situierung
Inner- und außerakademisch galt der Strukturalismus, gleich welcher Spielart, spätestens seit den mittleren 1970er-Jahren als überholt. Die Hauptrichtungslinie danach: der sogenannte Post- Strukturalismus in all seinen Formen. Auch dessen Hausse ist inzwischen vorüber. Warum also erneut den Differenzen zwischen Claude Lévi-Strauss und Jacques Derrida nachgehen? – Aus mindestens zwei Gründen.
Erstens: Lévi-Strauss’ erkenntnisoptimistischer Strukturalismus einerseits, Derridas erkenntnisskeptischer Dekonstruktivismus andrerseits sind die äußersten Ausläufer jener Spaltung, die mit der großen Frage aller modernen Philosophie entsteht. (Insofern bilden Strukturalismus und Dekonstruktivismus die zwei Enden der modernen Philosophie.)1 Ab dem Augenblick, da Gott sich als tot erweist – sein Tod eröffnet philosophisch die Moderne –, ist das Verhältnis von innerem Bewußtsein und gegenständlicher Wirklichkeit radikal entmetaphysiziert. Philosophisch bleiben zwei Möglichkeiten. (Die dritte Möglichkeit, weiterhin, als sei nichts vorgefallen, an eine göttliche Ordnung zu glauben, darf hier vernachlässigt werden.) Eine Möglichkeit ist, das intramentale Bewußtsein zu privilegieren, das heißt: die Welt als Vorstellung zu setzen. Die andere, dem gegenständlichen, materiellen Sein die Vorhand einzuräumen. So weit, so klar. Was diese Angelegenheit kompliziert macht, ist die Frage nach der konkreten Wirklichkeit der Relata Bewußtsein und Sein.Wie wir sehen werden, führt die erste Möglichkeit, ob gewollt oder nicht, zu einer vollständigen Semifikation der Welt: zu einer Textualisierung ontologischer und gesellschaftlicher Verhältnisse im Zeichen der Zeichen. Das non plus ultra dieser Richtung ist Derridas Œuvre. Die zweite Möglichkeit bringt ein Weltlich-Werden des Logos mit sich, eine dialektische reductio ad materiam sowohl der Welt der Zeichen (des Bewußtseins) wie der Zeichen der Welt (des Seins). Am Ende dieser Entwicklung steht Lévi-Strauss’ als Anti-Philosophie auftretender Strukturalismus.
Zweitens: Besonders klar treten die natürlichen Grenzen des Dekonstruktivismus – dessen Anspruch nicht zuletzt darin besteht, die dialektische Logik und Methode ad absurdum zu führen –, in der Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss’ materialistisch-dialektischem Strukturalismus hervor. Die inneren Widersprüche des Dekonstruktivismus, sage ich, zeigen sich nirgendwo so deutlich wie in Derridas Versuch, Lévi-Strauss’ Arbeiten zu „zerlegen“.
II. Zeichen und Welt, Welt und Zeichen
Beide, Lévi-Strauss wie Derrida, beziehen und berufen sich auf Ferdinand de Saussures strukturale Linguistik. Ein allgemeines Interesse darf Saussures Wissenschaft von den Zeichen des Menschen deshalb beanspruchen, weil sie zwischen jenen zwei Grundmöglichkeiten oszilliert, die sich in der Moderne herausbilden und einander gegenüberstehen. Wohnt der Mensch im Haus der Sprache, das, um im Bild zu bleiben, statt Fenstern und Türen Spiegel hat: seinem Bewohner den Sinn zur Sprache als äußere Grenze seiner Welterfahrung reflektiert? Oder ist der Mensch Produkt der gesellschaftlich- geschichtlichen Wirklichkeit und also das Denken in seine materiellen Möglichkeitsbedingungen aufzuheben? Auf dieser Folie: Ist Saussures Lehre eine Wissenschaft von den Zeichen des Menschen oder eine Wissenschaft von den Zeichen des Menschen?2 (Während es jener um die Merkmale des Zeichens als solchem zu tun ist, nähme letztere sich der Arten und Weisen an, wie Menschen durch Zeichengebrauch Welt erkennen und gestalten.) Die Antwort lautet: Saussure hat beide Seiten im Blick, jedoch de facto nur die Wissenschaft von den Zeichen erweitert (und revolutioniert), ohne parallel eine von den Zeichen des Menschen auszuarbeiten. (Daß dies kein Vorwurf sein kann, versteht sich von selbst. Saussure war Sprachwissenschaftler, nicht Philosoph oder Soziologe.)
In Übereinstimmung mit der philosophischen Grundfrage der Moderne eröffnet Saussures strukturale Linguistik zwei Horizonte: einen semiotischen Idealismus, eine materialistische Semiotik.3 Der semiotische Idealismus klammert zugunsten eines selbstbezüglichen Spiels der Zeichen die gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, worin Zeichengebrauch stattfindet, ein, wohingegen die materialistische Semiotik sich mit der Dialektik von gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeit und Zeichengebrauch beschäftigt. Derrida nimmt den ersten Weg, Lévi-Strauss den zweiten. Beide vindizieren Saussures Zeichentheorie, vollenden sie, ohne mit ihr zu brechen, allerdings auf entgegengesetzte Weise. Derrida, indem er die Welt der (oder des) Zeichen(s) ins Auge faßt, Lévi-Strauss, indem er sich der Welt der Zeichen zuwendet. Indem Derrida Semiotizität auf eine sich selbst hervorbringende, doch selbst nichtzeichenhafte Bewegung von Differenzen zurückführt – auf die différance – und Lévi-Strauss Semiotizität von einer materiellen Matrix herleitet, konkretisieren sie die zwei Grundmöglichkeiten des modernen Denkens. Derrida vollendet die Richtung, die von Arthur Schopenhauer über Friedrich Nietzsche bis zum linguistic turn und post-strukturalistischen Semiotropismus führt. Lévi-Strauss steht in jener Kontinuität, die von Ludwig Feuerbach über Karl Marx und Friedrich Engels, zum Teil auch Wilhelm Dilthey, bis zum Wissenschaftlichen Realismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen reicht.4 – Diese zwei Grundmöglichkeiten zeigen sich bei Saussure als Spannung zwischen der semiotischen valeur des Zeichens und seiner Existenz als fait social – zwischen der unbestimmten Wirklichkeit des Zeichens und seiner Existenz als Zeichen einer bestimmten Wirklichkeit –,5 um dann bei Derrida als referenzlose bzw. selbstreferentielle dissémination du sens und bei Lévi-Strauss als materielle activité structurale universelle et innée de l’esprit in Erscheinung zu treten.
Wie gesagt: Eine erste Erscheinungsform des semiotischen Phänomenalismus finden wir bei Schopenhauer. Der Wille – wie die différance keinem principium rationis sufficientis unterworfen und „frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit und Raum unzählig sind“6 –, wirkt im inneren Bewußtsein dergestalt, „Vorstellungen, die demselben ein Mal gegenwärtig gewesen, zu wiederholen, überhaupt die Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes zu richten und eine beliebige Gedankenreihe hervorzurufen.“7 Bereits das Bewußtsein ist eine Sprachfunktion in dem Maße, wie die Vorstellungen „dem Bewußtseyn ganz entschlüpfen und […] den damit beabsichtigten Denkoperationen gar nicht Stand halten; wenn sie nicht durch willkürliche Zeichen sinnlich fixirt und festgehalten würden: dies sind die Worte.“8
Diesem frühen linguistic turn folgt Nietzsche mit einer Semiotik der Machtquanten. „Ein Machtquantum“, heißt es in den späten Fragmenten, „ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie […]. […] / Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt […] ist der Begriff ›Bewegung‹. Hier ist immer subintelligirt, daß etwas bewegt wird, – hierbei wird […] immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt, – d. h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Thäter zum Thun, das Thun und das, was es thut, gesondert: vergessen wir nicht, daß das bloß eine Semiotik und nichts Reales bezeichnet.“9
Spätestens seit Nietzsche trägt der moderne Skeptizismus das Kleid des semiotischen Phänomenalismus (bzw. Perspektivismus). Daß das Ding an sich unerkennbar, daß die Sache selbst ein Phänomen bleibe, dafür sorge die Sprache. Die „Welt, deren wir bewusst werden können, [ist] nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt“.10 Wenn das, worin wir uns bewegen, keine Zeichenwelt, sondern nur eine Zeichenwelt sein könne, dann seien wir es, „die das ›Ding‹, das ›gleiche Ding‹, das Subjekt, das Prädikat, das Thun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und Einfachmachen am längsten getrieben haben. / Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie erst logisirt haben“.11 Damit ist in der modernen Philosophie, in der Philosophie der Moderne, die vollständige Semifikation der Welt, ihre Textualisierung im Zeichen der Zeichen, vollzogen. Wenn das Denken sprachlich ist und die Sprache als System, wie Saussure lehrt, nicht aus Positivitäten, sondern aus bloßen Differenzen besteht, dann ist unserem Bewusstsein nur mehr eine „bloße Semiotik der Folgen“12 zugänglich. Im Grunde unternimmt Derrida nichts anderes, als Nietzsches Semiotik der Machtquanten unter Einbeziehung von Saussures Zeichenmodell und Martin Heideggers ontologischer Differenz in eine Hyper-Semiotik der différance zu transformieren.13 14
Im Gegensatz dazu ist es Lévi-Strauss um ein Weltlich-Werden der θεωρία zu tun. Dabei aktualisiert er, sie zu einer materialistischen Allgemeinen Strukturanalyse ausweitend, Marxens und Engels’ Analysen der Praxis. Während Derrida in Nietzsches Fußstapfen fortschreitet und einer ursprunglos-nichtzeichenhaften dissémination nachsinnt,15 zeigt Lévi-Strauss, mit Bezug auf Marx und Engels, wie die Lebensweise einer Gesellschaft, wie ihr Umgang mit den materiellen Existenzbedingungen, auf die Produktion und Distribution von Zeichen Einfluß gewinnt. Lévi-Strauss’ Strukturalismus ist ganz durchdrungen von der Tendenz, die Stellung des Gedankens zur Wirklichkeit von der Wahrheit der Sache her klarzulegen. Lévi-Strauss läßt sich von jener Erkenntnis leiten, zu der Marx und Engels – auf ihre Weise auch der späte Edmund Husserl und der frühe Heidegger –16 gelangt sind: daß Sinn und Bedeutung sich aus dem Wechselspiel von Sein und Denken erklärt, genauer: aus einer dialektischen Vermittlung von Praxis und Wissen.
Worin Derrida und Lévi-Strauss noch übereinstimmen, ist, daß sie Konsequenzen aus Saussures und der modernen Zeichenlehre im allgemeinen ziehen. Aber während Derrida die Sphäre der Zeichen- Ökonomie verlässt, um sich jener außersemiotischen archi-écriture, woraus schlechthin alles sich entberge, zuzuwenden,17 bleibt Lévi- Strauss, da sie zwischen der Natur der Tatsachen und der Natur des Denkens vermittelten, den Zeichen treu. Er versucht zu zeigen, worin Zeichen bestehen und von welchen Gesetzen sie innerhalb des sozialen Lebens regiert werden.
II. Buchstabe und Herrschaft
(Strukturalismus als historischer Materialismus)
In Gestalt von Derrida und Lévi-Strauss ereilt dem modernen Denken ein doppeltes Schicksal. Ein doppeltes Schicksal ist paradox, doch paradox ist auch das moderne Denken. Noch einmal: Post-metaphysisch existieren zwei einander sich ausschließende Möglichkeiten: Eine mehr oder weniger gewaltsame Trennung von Bewußtsein und Sein einerseits, deren dialektische Vermittlung andrerseits. Die Semiotik spielt dabei eine so große Rolle, weil die Fähigkeit des Menschen, naturnotwendigen Entwicklungen eine gesellschaftliche Praxis entgegenzusetzen, nolens volens zeichenvermittelt ist (aber nicht zeichenbedingt).18
In seiner brillanten Studie De la grammatologie (1967) untersucht Derrida u. a. das Verhältnis empirischer Gewaltformen zu jenem ur-schriftlichen Hinterlassen von Spuren im weitesten Sinne, das seinerseits bereits, weil es die Möglichkeitsbedingung jedweder Bezeichnung, Kennzeichnung, Klassifikation sei, mit Zwang und Gewalt einhergehe. Jeder Akt des Bezeichnens, Kennzeichnens und Klassifizierens tue dem, was bezeichnet, gekennzeichnet, klassifiziert wird, Gewalt an. Davon nicht ausgenommen: der Gegensatz von φύσις und λόγος. – Ebenfalls gegen Lévi-Strauss gerichtet ist der Aufsatz La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines (1966), eine Art Mittelding zwischen philosophischem Kommentar und Dithyrambe. Eher philosophischer Kommentar als Dithyrambe dort, wo Derrida Lévi-Strauss’ Versuch, dem Spiel der Zeichen materialistisch- dialektisch beizukommen, eine Absage erteilt. Eher Dithyrambe als Kommentar immer dann, wenn Derrida eine ursprung- und ziellose Drift der Zeichen preist und darin die erste und letzte Wahrheit alles dessen, was ist, erkennt.
Was Derrida an Lévi-Strauss’ Beschreibungen außereuropäischer Gesellschaften stört, ist zum einen, daß der Ethnologe die Einrichtung der Schrift nur jenen Kulturen zuerkennt, die gesprochene Sprache auch graphisch darstellen. Im Lichte der différance betrachtet erscheint das als Fehler, weil die differäntielle Ur-Schrift das Spiel der Bedeutungen und des Sinns unabhängig davon eröffne, ob es mündlich oder schriftlich gespielt wird. Da jede Hervorbringung von Bedeutung und Sinn einen (Ur-)Schrift-Charakter habe, führe die Unterscheidung schriftloser und der Schrift kundiger Kulturen sich selbst ad absurdum. Des weiteren tadelt Derrida Lévi-Strauss’ Ansinnen, jenen semiotischen Vorgang zu ergründen, der Tatsachen in Ideen, die Wahrheit der Sache in eine Sache der Wahrheit verwandelt. Für Derrida ein bedenkliches Unterfangen, da es weder eine Wahrheit der Sache noch die Sache der Wahrheit gebe. Beides verliere sich im buchstäblich abgründigen Spiel der Zeichen.
Bei seinem Zusammentreffen mit dem Stamm der Nambikwara verteilt Lévi-Strauss, wie auch sonst in solchen Situationen, Papier und Stifte. Zunächst ohne größeren Nutzen, doch dann mit einer entscheidenden Ausnahme. Als einziges Stammesmitglied scheint der Häuptling die Funktion der Schrift sofort zu begreifen. Er verlangt nach Papier und Stift, um die Informationen, die Lévi-Strauss ihm entlockt, zunächst niederzuschreiben. Besser gesagt: Er tut, als könne er schreiben, um die Blätter mit Schlangenlinien zu füllen. Danach organisiert er sogar den üblichen Austausch der Geschenke, indem er vorgibt, einer selbst erstellten Liste zu entnehmen, welcher Gegenstand für wen bestimmt ist.
Dieses Erlebnis inspiriert Lévi-Strauss zu einer historisch-materialistischen Theorie der Schrift. Die also der Erkenntnis folgt, daß das Bewußtsein nichts anderes sein könne als das bewußte Sein. Im Hinblick auf den Nambikwara-Häuptling, und grundsätzlich im Hinblick auf die Entwicklung von Gesellschaften, notiert Lévi-Strauss:
„Es handelte sich nicht darum, zu wissen, im Gedächtnis zu behalten oder zu verstehen, sondern darum, Prestige und Autorität eines Individuums – oder einer Funktion – auf Kosten der anderen zu vermehren. Ein Eingeborener, noch im Steinzeitalter, hatte erraten, daß das große Mittel, um zu verstehen, in Ermangelung davon, es zu verstehen, anderen Zwecken dienen konnte. […] Nun, der Schreiber ist selten ein Funktionär oder ein Angestellter der Gruppe: Seine Wissenschaft geht einher mit Macht, so weit, daß dasselbe Individuum oft die Funktionen des Schreibers und des Wucherers vereint, gewiss nicht nur, weil er lesen und schreiben können muß, um sein Gewerbe auszuüben, sondern weil er sich auch, in doppelter Hinsicht, als derjenige Mensch erweist, der Einfluß hat auf die anderen.“19
Die allgemeine Ansicht ist, Schrift(lichkeit) befähige Gesellschaften vor allem, Wissen weiterzugeben. Erst vermöge der Schrift(zeichen) könne die Wahrheit der Sache Teil der omnis rerum memoria werden. Lévi-Strauss widerspricht und verweist auf das einige tausend Jahre dauernde Neolithikum, aus dem die wichtigsten Entdeckungen und Fortschritte der Menschheitsgeschichte hervorgegangen sind: Siedlungswesen, Agrikultur, Viehzucht, Domestikation, Werkzeugherstellung, Bergbau, Metallurgie, Handel. Alles das entstand vor der Erfindung der Schrift, und unabhängig von ihr wurde das dazu nötige Wissen überliefert. Eine unerlässliche Bedingung des kulturellen und wissenschaftlichen Gedächtnisses sei Literalität also nicht. Was vielmehr zusammen mit der Schrift auftauche, das sei
„die Formation von Städten und Reichen, das heißt der Zusammenschluß einer beträchtlichen Zahl von Individuen in ein politisches System und ihre Hierarchisierung in Kasten und in Klassen. Die Schrift scheint die Ausbeutung der Menschen vor ihrer Aufklärung zu begünstigen. […] Wenn meine Hypothese zutrifft, müssen wir annehmen, daß es die primäre Funktion schriftlicher Kommunikation ist, die Unterjochung zu erleichtern. Der Gebrauch der Schrift zu uneigennützigen Zwecken, um intellektuelle oder ästhetische Befriedigungen zu verschaffen, ist ein sekundäres Ergebnis, wenn es sich nicht sogar meistens auf ein Mittel reduziert, um das andere zu verstärken, zu rechtfertigen oder zu verhehlen.“20
Lévi-Strauss, dessen Hypothese sich bestätigt hat,21 entwickelt eine marxistische Theorie der Schrift, die den Wert von Literalität in dem Maße einschränkt, wie es mit ihrer Hilfe zuallererst möglich werde, bestehende Produktions- und Reproduktionsverhältnisse zu objektivieren und zu positivieren: einen die wahre Verhältnisse verschleiernden und rechtfertigenden Überbau buchstäblich und im übertragenen Sinn in Stein zu meißeln. Im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie (1858) unterstreicht Marx, daß die Herrschaftsformen und die Rechtsverhältnisse politischer Gebilde „weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln“.22 Lévi-Strauss fügt hinzu, daß Gemeinwesen, daß politische Systeme nur dann dauerhaft zu existieren vermögen, wenn sie ihre Herrschafts- und Rechtsanschauungen kanonisieren (seine Beispiele: Ägypten und China). Von ebendieser Objektivierung der Gesellschaftsformation anzunehmen, sie sei von alters her die erste Aufgabe jeder Schrift gewesen, liegt nahe.
Von Derridas grammatologischer Warte aus betrachtet, ist jedes Hinterlassen von Spuren, ganz gleich, ob unwillkürlich oder bewußt, ein Schriftakt. Wo es Unterschiede gibt, Unterschiede gemacht werden, wirke a fortiori die Ur-Schrift. Mithin von jeher, immer und überall. So erübrige es sich, Gesellschaften in schriftlose und schriftkundige einzuteilen. Derrida kritisiert, daß Lévi-Strauss diese Einteilung übernimmt, gleichzeitig aber den Dualismus geschichtslos–geschichtlich zurückweist. Das sei inkonsequent, denn: Keine Geschichte ohne Literalität. Da Literalität die Voraussetzung des kulturellen Gedächtnisses sei und alle Gesellschaften eine Geschichte haben, verliere der Gegensatz schriftlos–schriftkundig jeden Sinn.
Wissen, argumentiert Derrida, bedürfe der Schrift(lichkeit), um tradierbar zu sein, und ein kollektives Gedächtnis habe erst in dem Moment entstehen können, wo Schrift(lichkeit) erlaube, „einer genealogischen Klassifikation eine supplementäre Objektivierung anderer Rangordnung zu verleihen und zu bewahren“.23 Von Beginn an sei Literalität mit der Organisation von Verwandtschaftsbeziehungen verbunden gewesen.24 – Daß Literalität und Genealogie gleich- ursprünglich seien, ist eine griffige Hypothese. Daß sichere und echte Informationen diese Hypothese bestätigt haben, indes falsch. (Hier verzichtet Derrida übrigens darauf, Quellen zu nennen.) Weder in den 1960er-Jahren noch heute sehen Paläographen einen Entstehungszusammenhang von Schrift und genealogischer Rückerinnerung. Die erste Funktion der Schrift bestand darin, Objekte zu verzeichnen und (oder) ihren Austausch zu erfassen. Was auch unabhängig von den archäologischen Funden, die dies bestätigen, glaubhaft ist. Genealogien mündlich zu tradieren, bereitet kaum Schwierigkeiten. Dahingegen setzt die Aneignung und der Besitz von Produktionsmittel und Gütern – sowie die Durchsetzung einer rechtlichen Verfügungsgewalt über sie – eine abstrakte Ordnung von Privateigentum einerseits und gesellschaftlichem Eigentum andrerseits voraus, deren unerlässliche Möglichkeitsbedingung Schrift(lichkeit) ist. Und tatsächlich: Was ist das erste, was der Nambikwara-Häuptling tut, nachdem er die Funktion der Schrift begriffen hat? Ohne daß ihn jemand auf die Idee hätte bringen müssen, inventarisiert er Dinge und wickelt er den Tauschhandel anhand einer Liste ab, die er selbst „geschrieben“ hat. Das ist, worauf Lévi-Strauss zu Recht hinweist, faszinierend. Daß der Anführer sich nur den Schein gibt, schreiben und lesen zu können, ändert nichts daran, daß er die Interaktions- und die Kontrollfunktion des neuen Mediums erkannt hat und sofort zu nutzen versteht.
Alles das muß Derrida, um seine Annahme einer generatio aequivoca der Schrift argumentativ zu immunisieren, außer acht lassen. Er verweist schließlich, um seine Behauptung zu stützen, auf eine Eingeborenen-Zeichung, die sich in Lévi-Strauss’ früher Nambikwara-Studie findet und möglicherweise verwandtschaftliche Verhältnisse darstellt.25 Daraus folgert Derrida erstens, Schriftlichkeit und genealogische Klassifizierung seien gleichursprünglich, und zweitens: Weder die Nambikwara-Gesellschaft noch sonst irgendeine verfüge nicht über Schrift, weil jeder Akt des Spuren-Hinterlassens einen Schrift-Charakter aufweise.
Unrichtig ist der erste Schluß, überallgemein und also (für die Praxis) unbrauchbar der zweite. Soweit es sachlich trägt, sei es unterm Horizont einer philosophischen Universalgeschichte der Zeichenhaftigkeit zugestanden, den klassischen Schrift-Begriff einer Allgemeinen Grammatologie anzuverwandeln, worin Schrift und Hervorbringung von Spuren dasselbe meint. Allein, empirisch und heuristisch zwischen schriftlosen und literalen Gesellschaften zu unterscheiden, wird dadurch nicht überflüssig. – Was ereignet sich, wenn Gesellschaften, oder einige ihrer Mitglieder, die Fähigkeit zu schreiben und zu lesen haben? Sie entwickeln mit ihr die Fähigkeit, alle im subjektiven sowohl als kollektiven Bewußtsein gespeicherten ideellen Reproduktionen der objektiven Realität unabhängig von Raum und Zeit dauerhaft zu speichern und zu verbreiten. Einige Gesellschaften vermochten diese Fähigkeit früher zu entwickeln als andere, und wieder andere, und zwar die meisten, besitzen sie gar nicht. Daß die grammatologische Wirkung der Ur-Schrift orale und literale Gesellschaften durchdringt, ist, weil der Mensch ein homo semioticus ist, gewiß. Jede Gesellschaft, heißt das, nimmt (unbewußt) am Spiel der différance teil. Doch keineswegs alle Gesellschaften spielen dieses Spiel, indem sie Sprache (auch) in graphische Zeichen übersetzen.
Die Nambikwara können als schriftlos gelten, weil sie nicht über die Konvention verfügen, lautsprachlichen Zeichen graphische Symbole zuzuordnen. In dem Maße, wie Derrida die différance als das A und O aller semiotischen Phänomene namhaft macht, trifft der Vorwurf des Ethnozentrismus, den er gegen Lévi-Strauss erhebt, ihn selbst. Lévi-Strauss’ Studien, sagt Derrida, seien ethnozentrisch, weil der Strukturalist einem traditionellen Schrift-Begriff anhänge und dessen Implikationen den sogenannten primitiven Gesellschaften zumute. Was Derrida übersieht, ist, daß den Nambikwara das, was Schrift jenseits der grammatologischen Nomenklatur meint, unbekannt ist. Indem Derrida die semiotischen Praktiken der Nambikwara – und die aller anderen schriftlosen Gesellschaften – unter seiner grammatologischen Optik wahrnimmt, glaubt er, etwas zu entdecken, was a fortiori außerhalb der autochthonen Möglichkeiten liegt. Weil ihr ein im eigentlichen Wortsinne meta-physischer Schrift-Begriff zugrunde liegt, eignet Derridas Argumentation ein ethnozentrischer Zug. Nicht überall, wo Semiotizität ist, kommt es zu einer Graphogenese. Derridas Grammatologismus ist der äußerste Triumph eines insofern unverkennbar occidentalen Denkens, als es die Anderen ihrer Andersheit beraubt, indem es im Anderssein der Anderen das Andere des Eigenen zu erfassen meint und auf diese Weise ihr Anderssein zu einem Modus seiner selbst macht.
III. Die Lektion der Tropen: Die Botschaft sucht sich ihr Medium
Derrida rügt Lévi-Strauss, weil der Strukturalist Schrift und Markierung nicht gleichsetzt, sondern der klassischen Sprach- und Schrifttheorie folgt. Freilich befindet Derrida sich auf einer anderen Argumentationsebene. Während er (auf inhaltlich unsicherer Grundlage) darzulegen sucht, warum jede Gesellschaft im Besitz von Schrift sei, fragt Lévi-Strauss, was einer Gesellschaft anthropologisch, soziologisch, politisch bevorsteht, wenn sie (zusätzlich) über das Medium der Schrift verfügt. Nicht um den gleichsam onto-medialen Charakter einer Ur-Schrift ist es Lévi-Strauss zu tun, sondern um die konkreten gesellschaftlichen Veränderungen, die mit Literalität einhergehen.
Interessanterweise wäre Lévi-Strauss’ Schrift-Theorie selbst dann nicht wiederlegt, wenn Derridas Hypothese, daß Schriftlichkeit und genealogische Erkenntnis gleichursprünglich seien, zuträfe. Derrida betont ja, daß einem aus genealogischer Sorge erschaffenen supplementären Zeichen-System früher oder später die Aufgabe erwüchse, Genealogien zu positivieren. Damit wäre das Fundament dessen geschaffen, was für Lévi-Strauss die erste Aufgabe der Schrift ist: politische Systeme zu ermöglichen und Individuen in Kasten und Klassen zu hierarchisieren. Daß Derridas Hypothese letztlich falsch ist, ist unerheblich in dem Maße, wie ihr, wäre sie korrekt, bescheinigt werden müßte, Lévi-Strauss’ Erklärungsversuch zu stützen!
Daß Schrift(lichkeit) in erster Linie eine epistemogenetische Funktion habe, bestreitet Lévi-Strauss. Historisch gesehen war ihre erste Funktion, die Ausbeutung von Menschen durch Menschen zu erleichtern. Hier zu unterscheiden, lehnt Derrida ab. Was er dagegenhält, ist, daß die politisch-soziologische Dimension der Schrift mit der onto-medialen ur-schriftlichen in eins falle. Gesetzt, daß die herkömmliche Schrift bereits im Anfang eine Gewalt-Dimension besitzt: Gibt „es dann etwas, sei’s die Wissenschaft selbst, was ihr [der Ur-Gewalt] radikal entkommt? Gibt es eine Erkenntnis und vor allem eine Sprache, wissenschaftlich oder nicht, von der man sagen könnte, sie sei fremd zugleich der Schrift und der Gewalt? Wenn man das verneint, was wir tun, ist der Gebrauch dieser Begriffe, um den spezifischen Charakter der Schrift zu unterscheiden, nicht zutreffend.“26 Wohlgemerkt: Si l’on répond par la négative. Also nur dann, wenn man Derrida beipflichtet. Unter der grammatologischen Optik spielt die Ur-Schrift und Ur-Gewalt der differance eine wichtigere Rolle als die reale gesellschaftliche Basis, die das Handeln und das Denken der Individuen bestimmt. Daß Derrida und Lévi-Strauss die zwei philosophischen Grundmöglichkeiten der Moderne ausloten, wird nirgends so deutlich wie hier. Während Derrida nietzscheanisch eine unendliche Drift der Zeichen beschwört, die den Unterschied zwischen der Bezeichnung eines Objekts und dem bezeichneten Objekt selbst buchstäblich aus der Welt schafft, erinnert Lévi-Strauss mit Marx und Engels daran, daß es Tatsachen sind, die sich auf dem Wege ihrer Zeichenwerdung in Ideen verwandeln.27
Was Derrida ein- oder ausklammert, ist die objektive Realität der Menschen, ihre gesellschaftliche Praxis. Die grammatologische Dimension von Schrift(lichkeit) liegt auf einer anderen Ebene als das, was eine Gesellschaft, sobald sie literal ist, dem neuen Kommunikationsmittel abverlangt. Es ist, dies vorausgesetzt, weder unlogisch noch inkonsequent, zu behaupten, die Schrift befriedige, bevor sie intellektuelle und ästhetische Aufgaben erfüllt, zuerst politische Bedürfnisse. Indem Lévi-Strauss (wieder) die wirkliche, materielle Wirklichkeit als fundamentum inconcussum von Semiotizität ins Blickfeld rückt, bewahrt er das moderne Denken davor, in jene Aporie zu geraten, wo ein scheinbar autokonstitutives Spiel der Zeichen die Ordnung der Dinge hervorbringt und nicht, indem er vermittels Zeichen Tatsachen in Ideen verwandelt, der Mensch.
Mit Recht bemerkt Derrida, daß Lévi-Strauss, wenn er die Bedeutung der Schrift als Medium des Wissens relativiert, sich den Blick trüben lasse. Mit Recht bemerkt Derrida, daß die abendländische Episteme, vor allem in Gestalt von Geometrie und Mathematik, der Schrift bedarf, weil deren Gegenstände überzeitliche Idealitäten sind, die, um ihren idealen Charakter zu erlangen und zu behalten, iterabel sein müssen (reproduzierbar unabhängig von Raum und Zeit). Das zu ermöglichen, ist die Aufgabe der Schrift. Unrecht hat Derrida jedoch, wenn er Lévi-Strauss vorwirft, „jede Besonderheit gegenüber dem wissenschaftlichen Projekt und dem Wert der Wahrheit im allgemeinen“ zurückzuweisen.28 Das ganze Gegenteil trifft zu. Wie kein zweiter arbeitet Lévi-Strauss daran, das Denken der sogenannten Primitiven, das wilde Denken, als Wissenschaft (!) des Konkreten zu erhellen.
Die Erfindungen und Errungenschaften des Neolithikums – durchweg Hervorbringungen eines vor-literalen, wilden Denkens –, setzten „Jahrhunderte der aktiven und methodischen Beobachtung voraus, kühne und kontrollierte Hypothesen, um sie zu verwerfen oder um sie zu bestätigen vermittels unermüdlich wiederholter Experimente. […] Um die, oft langwierigen und komplexen, Techniken auszuarbeiten, […] war, daran zweifeln wir nicht, eine echte wissenschaftliche Geisteshaltung nötig, eine beharrliche und immerwache Neugier, ein Hunger nach Erkenntnis um des Vergnügens an der Erkenntnis willen, denn ein kleiner Bruchteil nur der Beobachtungen und der Experimente (bei denen man wohl voraussetzen muß, daß sie, zuerst und vor allem, durch die Lust am Wissen inspiriert waren) konnte praktische Resultate zeitigen, und sofort verwendbare. […] Der Mensch des Neolithikums oder der Proto-Historie ist also der Erbe einer langen wissenschaftlichen Tradition; dennoch, wenn der Geist, der ihn, sowie alle seine Vorgänger, inspirierte, genau derselbe gewesen wäre wie der der Moderne, wie könnten wir uns klarmachen, daß er stehenblieb, und daß sich mehrere Jahrtausende der Stagnation, wie eine Atempause, zwischen die neolithische Revolution und die zeitgenössische Wissenschaft schieben? Das Paradox läßt nur eine Lösung zu: daß zwei unterschiedliche Weisen wissenschaftlichen Denkens existieren, die eine und die andere sicher nicht als ungleiche Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern als zwei strategische Ebenen, worauf die Natur sich durch die wissenschaftliche Erkenntnis in Angriff nehmen lässt: Die eine ungefähr der Wahrnehmung und der Einbildungskraft angepaßt und die andere verschoben; wie wenn die notwendigen Beziehungen, die das Objekt aller Wissenschaft bilden – sei sie neolithisch oder modern – auf zwei verschiedenen Wegen erreicht werden könnten: Der eine nahe bei der sinnlichen Intuition, der andere weiter entfernt. […] [Die] Wissenschaft des Konkreten mußte, ihrer Natur nach, auf andere Resultate beschränkt sein als die, welche die exakten und Naturwissenschaften versprachen, aber sie war nicht weniger wissenschaftlich, und ihre Resultate waren nicht weniger wirklich.“29
Dieses längere Zitat zeigt, wie sehr Derrida Lévi-Strauss mißversteht. Richtig ist: Lévi-Strauss behauptet, Schrift(lichkeit) habe nicht in die Lage versetzt, „de cumuler les acquisitions anciennes et progressent de plus en plus vite vers le but qu’ils se sont assigné“.30 Falsch jedoch ist, daß Lévi-Strauss den Wert des wissenschaftlichen Denkens zu gering anschlägt. Es ist gerade die Fähigkeit, wissenschaftlich zu denken, die Lévi-Strauss dem wilden Denken unbedingte Anerkennung zollen läßt! Lévi-Strauss betont aufs stärkste, das wilde Denken besitze einen wissenschaftlichen Verstand, sei also systematisch, logisch, methodisch.
Wissenschaftlich zu sein, spricht Derrida dem schriftlosen wilden Denken in dem Augenblick ab, wo er wissenschaftliches Denken und Literalität aufeinander bezieht. Wenn er Lévi-Strauss’ Theorie, daß Schrift während der Epistemogenese eine untergeordnete Rolle gespielt habe, anlastet, den Wert des wissenschaftlichen Entwurfs herabzusetzen, so kann das, weil für Lévi-Strauss das wilde Denken de facto wissenschaftlich ist, nur den Wert der neuzeitlichen und modernen Naturwissenschaften betreffen. Anders gesagt: Derrida verabsolutiert den Wert der neuzeitlichen und modernen Naturwissenschaften, während er ignoriert, daß bereits das wilde Denken sich als wissenschaftlich erweist. Erneut schlägt die Argumentation um ins Ethnozentrische, weil Derrida die Eigenschaft, wissenschaftlich zu sein, nur dort zur Kenntnis nimmt, wo die Möglichkeit vorhanden ist, überzeitliche intelligible Idealitäten hervorzubringen: im abendländischen Denken seit Euklid. Hier entpuppt sich Derridas Philosophie der Schrift aus ihrer grammatologischen Hülle, um einen ethnozentrischen Kern zu offenbaren. Weil Derrida im Zeichen einer graphozentrischen Universalgeschichte (worin die Ur-Schrift als causa efficiens, causa finalis und finis rerum omnium wirkt), alle empirischen Unterschiede neutralisiert, zwingt er den sogenannten primitiven Gesellschaften seinen Grammatologismus unter anderem mit der Folge auf, dem wilden Denken a priori die Fähigkeit abzuerkennen, auf seine Art wissenschaftlich, mithin systematisch, logisch und methodisch zu sein.
IV. Der Strukturalismus als Probierstein des Gehirns, das Gehirn als Probierstein des Strukturalismus
(Strukturalismus als dialektischer Materialismus)
Derridas Versuch, von Paris aus die semiotischen Praktiken nicht nur der Nambikwara, sondern die aller primitiven Gesellschaften zu deuten, mißlingt. Das ist, wie gesagt, von höchster Bedeutung, weil in Derridas Philosophie jener moderne Semiotismus seinen Höhepunkt erreicht, der das Universum der Sprache im Zustand maximaler Entropie wähnt – so daß, wie es bei Nietzsche heißt, „unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heissen, als was sie sind“.31 Letztes Echo und höchste Spitze dieser subjektiven Semio-Logik Nietzsches ist Derridas Denken der différance, das noch eine objektive Semio-Logik erschafft, indem es das Signifikat ganz vom Signifikanten trennt und beide der sogenannten Ur-Schrift überantwortet, der absoluten Differenz in ihrer Selbstentäußerung.
Gleichwohl: Derridas Kritik an der Philosophie des Strukturalismus ist ernst zu nehmen. Vermag der Dekonstruktivismus einen materialistischen Strukturalismus bzw. strukturalistischen Materialismus à la Lévi-Strauss philosophisch zu widerlegen? Immerhin findet letzterer seine raison d’être darin, „die Kohärenz aller Klassifikations-Systeme eng zusammen mit den Zwängen [darzulegen], die der Arbeitsweise des Denkens eignen.“32 Klar sei, daß „diese Zwänge die Formation der Symbole aus[richten], sie erklären, wie sie sich entgegensetzen und sich untereinander artikulieren. […] Was wir beobachten und zu beschreiben suchen müssen, sind die Versuche, eine Art Kompromiß zu verwirklichen zwischen, einesteils, bestimmten historischen Ausrichtungen und bestimmten Eigenschaften des Milieus, andernteils mentalen Anforderungen, die, in jeder Epoche, jene bestimmten Anforderungen verlängern, die ihnen in der Zeit vorausgegangen sind. Indem sie sich gegenseitig anpassen, begründen und konstituieren so diese beiden Ordnungen ein bedeutungtragendes Ganzes.“33
Im oben genannten Structure-Aufsatz widmet Derrida sich einem entscheidenden Problem, das virulent bleibt. Widerlegt nicht die Tatsache, daß Sinn und Bedeutung Effekte semiotischer Differenzen sind, sich bis ins Unerreichbar-Unendliche aufschieben, Lévi-Strauss’ Suche nach einer universalen Tiefenstruktur, die Denken und Gedachtes synchronisiert? Kann es tatsächlich ein transzendentales Signifikat geben, das dem Spiel der Zeichen Einhalt gebietet oder Regeln auferlegt? Oder ist, wie Derrida meint, die äußerste Wahrheit die einer unendlichen Vieldeutigkeit der Welt, welche das unausgesprochene Gebot nach sich zöge, „l’aventure séminale de la trace“ zu affirmieren:34
„Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt […] ist die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld des Werdens, ist die Bejahung einer schuldlosen Welt aus Zeichen
– ohne Wahrheit, ohne Ursprung –, die offen steht für eine tätige Deutung […]. Diese Bejahung bestimmt das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums. Und sie spielt ohne Sicherheit. Denn es gibt ein sicheres Spiel: Dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution gegebener und existierender, präsenter Stücke. Im absoluten Zufall liefert die Bejahung sich auch der genetischen Unbestimmtheit aus.“ 35
Virulent bleibt das eingangs angesprochene Problem einer Erkenntnistheorie, deren Fluchtpunkt entweder die Welt der Zeichen oder die Welt der Zeichen ist. Deren Fluchtpunkt entweder in einer sub- oder supra-humanen Semiodizee oder in einer Anthropodizee des homo semioticus liegt. Derrida und Lévi-Strauss, siehe oben, fechten diesen Konflikt zwischen Agnostizismus und Universalismus stellvertretend aus. – Den Strukturalismus erklärt Derrida im Lichte der différance für ungültig. Anstatt sie auf das freie Spiel der Differenzen hin zu öffnen, arbeite Lévi-Strauss sogar daran, (metaphysischen) Gegensätzen wie Intelligibilität–Sensibilität, Natur–Kultur, Bezeichnendes–Bezeichnetes, Syntax–Lexik neuen Kredit zu verschaffen. Was Derrida ignoriert, ist, daß Lévi-Strauss erkenntnistheoretisch dem dialektischen Materialismus folgt, also davon ausgeht, daß alle Gegensätze sub specie des Ganzen sich aufheben. Streiten somit beide am Ende doch um Nichtigkeiten? Gewiß nicht. Denn während Derrida das Spiel der Differenzen disseminiert und im Rahmen seiner dekonstruktivistischen Philosophie feiert, stößt der strukturalistische Materialist/materialistische Strukturalist Lévi-Strauss auf eine transzendentale Instanz, auf eine Struktur, die das dialektische Wechselspiel von Signifikant und Signifikat berechenbar macht. Im Strukturalismus ist die transzendentale Referenz aller Zeichen – oder wie Derrida sagt: das transzendentale Signifikat – nichts anderes als der menschliche Geist = das Gehirn = die Materie.
Als Gehirn ist der menschliche Geist ein physiko-chemisches, das heißt materielles Produkt der Natur. Daß die Gesetze der Natur auch für ihn gelten, folgt daraus. Notwendige sowie hinreichende Bedingung aller objektiven und subjektiven Erscheinungen ist die Materie.36 Ohne Materie kein Gehirn, ohne Gehirn keine Signifikate. (A priori gibt es Signifikate nur dort, wo Bewußtseine/Gehirne existieren, die sie als Signifikate erfassen.) Daß die Materie jenes transzendentale Signifikat sein könnte, das er schlechterdings in Frage stellt, ahnt Derrida.37 Er weigert sich jedoch, die Materie als erste bzw. letzte ontologische Instanz anzuerkennen, weil mit ihr (wieder) der Referent ins Spiel komme.38
„Kurz, der Signifikant ›Materie‹ erscheint mir problematisch nur in dem Moment, wo seine Wiedereinschreibung nicht verhindert, daraus ein neues fundamentales Prinzip zu machen, oder wo man ihn, durch eine theoretische Regression, als ein ›transzendentales Signifikat‹ wiederkonstituierte. […] Er wird dann ein allerletzter Referent oder eine ›objektive Realität‹, jeder Arbeit des Zeichens absolut ›vorausgehend‹.“39
In der Tat. Aber warum hat Derrida vor einer nicht zeichenhaften Materie solche Angst? Weil ihre Existenz, insofern es sich um eine nicht dekonstruierbare Entität handelt, seinem Dekonstruktivismus Grenzen setzt? Um (etwas) dekonstruieren zu können, müssen zeichenhafte Oppositionen vorhanden sein, – die Materie weder als Konzept noch als physiko-chemische Entität aufweist. Daß sie letzten Endes erneut dem Geist, dem Denken, der Idealität, Intelligibilität usw. entgegengesetzt werde, ist Derridas einziges Argument wider die Materie als transzendentalem Signifikat. Allein, der dialektische Materialismus Engels’ und Lenins, auf den Derrida sich hier bezieht – und den Lévi-Strauss erneuert –,40 verfährt durchaus monistisch.
VII. Ergebnis und Schluß
Oben hieß es, die natürliche Grenze des Dekonstruktivismus zeichne sich besonders deutlich in der Auseinandersetzung mit Lévi- Strauss’ Strukturalismus ab. Dies deshalb, weil Derrida eine ewige, unendliche Bewegung des Zeichens, genauer: des Signifikanten, entwirft, während Lévi-Strauss in jene Strukturen Licht bringt, die das Spiel der Zeichen überhaupt erst ermöglichen. Während Derrida und der Post-Strukturalismus, hierin Nietzsche folgend, die Grenze zwischen Realem und Symbolischem verwischen und beides im Zeichen der Zeichen textualisieren, unterscheidet Lévi-Strauss in Übereinstimmung mit Marxens Basis-Überbau-Modell zwischen der Ebene der extramentalen Tatsachen der Welt/Natur, die das Material menschlicher Anverwandlung sind, und der Ebene des menschlichen Geistes, der diese Tatsachen in Zeichen verwandelt.
Die hervorragende Stellung, die Lévi-Strauss auf dem Gebiet des dialektischen Denkens einimmt, ergibt sich daraus, daß er die Basis- Überbau-Theorie erkenntnistheoretisch um eine Zwischenstufe erweitert. Klar sei, daß „die Vorstellungen, die die Menschen sich von den Beziehungen zwischen Natur und Kultur machen, eine Funktion ist der Art und Weise, wie sie ihre eigenen sozialen Beziehungen verändern.“41 Während der Schulmarxismus gemeinhin so argumentiert, als entspränge der Überbau unmittelbar der materiellen Praxis, macht Lévi-Strauss darauf aufmerksam, daß die Widerspiegelung des Seins im Bewußtsein in ganz bestimmten kognitiven Bahnen erfolgt. „Die Basis“, schreibt Lévi-Strauss, „wirkt nur, insofern sie gedacht wird, und in dem Augenblick, wo sie gedacht wird, ist sie bereits in eine bestimmte Form gebracht, die etwas Verpflichtendes hat.“42 So lautet die entscheidende Frage: Wie erhält Gedachtes (s) eine bestimmte Form und mit ihr die Eigenschaft, berechenbar zu sein?
Der menschliche Geist, betont Lévi-Strauss, verwandelt materielle Tatsachen/die Basis in Ideen/den Überbau. Und, fügt er hinzu, dieser Vorgang sei dialektisch. Wenn nun, wie spätestens seit Saussure in Rechnung zu stellen ist, Denken und Sprache untrennbar miteinander verbunden sind, dann gilt, daß die dialektische Verwandlung von Tatsachen in Ideen, die das Basis-Überbau-Modell beschreibt, im menschlichen Geist den Weg nehmen muß, den die Linguistik aufgedeckt hat. Das Denken spiegelt und strukturiert die Tatsachen nach Maßgabe der Gesetze, die auch der Struktur der Sprache zugrunde liegen. Der Überbau spiegelt die Basis dergestalt, daß die Struktur der Sprache – mit Saussure: der langue –, als dritte Ebene zwischen die Ordnung der Tatsachen und die Ordnung der Ideen tritt.43 Die strukturelle Ordnung dessen, was gedacht wird (= der Ideen, des Überbaus), ist der Struktur der Sprache homolog. In beiden Fällen besteht die Dialektik von Bezeichnetem und Bezeichnendem darin,
„konstitutive Einheiten zu setzen, indem man sie [die Einheiten] paarweise gegenüberstellt, um anschließend, vermittels dieser konstitutiven Einheiten, ein System auszuarbeiten, das am Ende die Rolle eines synthetischen Operators zwischen Idee und Tatsache dadurch spielen wird, daß es die Tatsache in ein Zeichen verwandelt.“44
Die Widerspiegelungstheorie des historisch-dialektischen Materialismus ergänzt und erweitert Lévi-Strauss in dem Maße, wie er die Tatsachen der Praxis/Basis nicht sofort als Überbau-Phänomen verdoppelt, sondern zunächst untersucht, welche physiologischen Abbildungsgesetze den sensomotorischen Input strukturieren. Wie entstehen Informationseinheiten? Um dann zusammen mit allen anderen Informationseinheiten die Bedeutungsstruktur zu bilden, die der Überbau ist? Strukturalistisch betrachtet ist der Überbau keine direkte, sondern eine vermittelte Abbildung der Basis, die aus einer physiologisch bedingten und kognitiv-intellektuellen Übersetzungsleistung hervorgeht.
Seit seiner epochalen Abhandlung über Verwandtschaftsstrukturen (Les structures élémentaires de la parenté, 1949) hat Lévi-Strauss auf mehreren tausend Seiten nichts anderes getan, als den Mechanismen nachzuforschen, die zwischen der extramentalen Ordnung der Dinge und ihrer intramentalen Repräsentation vermitteln (zwischen Basis und Überbau). Wohlgemerkt: Lévi-Strauss sagt nicht, die Sprache determiniere das Denken. Vielmehr verhalte es sich so, daß sowohl die Struktur der Sprache wie die des Denkens der ontologischen, objektiven Struktur der Wirklichkeit/Natur entspricht. Hier liegt übrigens der schwerste Fehler des Post-Strukturalismus. Daß Sprache und Denken, wie dieser nicht müde wird zu betonen, ko-konstitutiv sind, ist wohl so. Freilich erschließt die ganze Wahrheit sich erst, wenn man Sprache und Denken ihrerseits vor dem Hintergrund einer übergreifenden Ontologie betrachtet. A fortiori sind Sprache und Denken Teil eines größeren Ganzen: Teil der materiellen Welt, und mithin verläuft jeder Versuch, die Semiotik zu verabsolutieren, ins Leere. (Da Lévi-Strauss Denken und Sprache auf ihre materiellen Möglichkeitsbedingungen zurückführt, ist er nicht zuletzt vor jenem kulturalistischen Fehlschluß gefeit, in den namentlich Edward Sapir und Benjamin Whorf verfallen – deren sprachliches Relativitätsprinzip bekanntlich besagt, die Strukturen der Sprache beherrschten auch die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit beschreiben und deuten.) Beide, Sprache und Denken, widerspiegeln die Gesetze der Materie, so daß in letzter Instanz die Ordnung der Ideen (= der Überbau) das Funktionieren des Geistes und das Funktionieren des Geistes „die Struktur des Draußen“45 spiegelt.
Indem Lévi-Strauss den historisch-dialektischen Materialismus mit den Erkenntnissen der modernen Linguistik verbindet, kann er erstens die erkenntnistheoretische Lücke füllen, die der Marxismus zwischen Basis und Überbau gelassen hatte. Des weiteren entkräftet er schon vor dessen Ankunft den sogenannten Post-Strukturalismus. Wohl stimmen Derrida und Lévi-Strauss darin überein, daß die symbolische bzw. kulturelle Ordnung einer Gesellschaft (ihr Überbau) sich fortwährend und gleichsam hinterm Rücken der Menschen transformiert. Der Grund, weshalb Dekonstruktivismus und Strukturalismus sich dennoch diametral entgegenstehen, ist dieser: Während die transformatorische Bewegung der Zeichen im Dekonstruktivismus cum grano salis eine ähnliche Rolle spielt wie Gott in der theología apophatikḗ – als hyper-ontologisch Unbestimmbares, das sich niemals in (s)einer und durch (s)eine Präsenz zeige –, führt sie der Strukturalismus auf eine universale, doch materielle Dialektik zurück, die Erkennen und Praxis, Bewußtsein und Sein, Abstraktes und Konkretes, Logisches und Historisches synchronisiert und ineinander aufhebt. Während im Dekonstruktivismus das, was ist oder zu sein scheint, unterm Horizont einer sich selbst hervorbringenden und sich selbst regulierenden différance steht, fallen Sein und Schein in Lévi-Strauss’ materialistischem Strukturalismus dialektisch zusammen.
Endnoten
1 Um jedes Mißverständnis auszuschließen: Daß in diesem Aufsatz Lévi-Strauss und Derrida gegeneinander antreten, hängt weder von einer Laune des Verfassers noch von anderen Zufälligkeiten ab. Ich behaupte und zu zeigen ist: Lévi-Strauss und Derrida sind tatsächlich die beiden Hauptfiguren auf jenem Schauplatz, auf dem seit der Mitte der 1960er-Jahre der philosophische Kampf zwischen Universalismus und Agnostizismus ausgefochten wird. — Meine Sympathien gelten dem Universalismus. Daß ich durch eine Vorurteilsbrille schaue, folgt daraus nicht. Ich beanspruche, hermeneutisch und philosophiehistorisch korrekt zu sein. Besonderer Erwähnung bedarf das, weil es sich in den vom Relativismus heimgesuchten Geisteswissenschaften keineswegs von selbst versteht, zu unterscheiden zwischen dem, was ist, und dem, wie man es gerne hätte. Wer, zum Beispiel, weiß, wie Gutachterverfahren dazu dienen, unerwünschte Diskussionsbeiträge mit herbeikonstruierter Kritik zu überziehen, kann davon ein Lied singen.
2 „Wir haben soeben gesehen, daß die Sprache eine soziale Einrichtung ist; aber sie unterscheidet sich durch mehrere Züge von andern Einrichtungen, wie den politischen, rechtlichen usw. […] / Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern der Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar. Nur ist sie das wichtigste dieser Systeme. / Man kann sich also vorstellen eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht; diese würde einen Teil der Sozialpsychologie bilden, und infolgedessen eine Teil der allgemeinen Psychologie; wir werden sie Semeologie nennen […]. Sie würde uns lehren, worin die Zeichen bestehen und welche Gesetze sie regieren. Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat ein Anspruch darauf, zu bestehen, ihre Stellung ist von vornherein bestimmt.“ (Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 19)
3 Besonders deutlich wird dies in folgender Passage: „Oder endlich, man beachtet zwar, daß das Zeichen in sozialer Hinsicht untersucht werden muß, berücksichtigt aber nur diejenigen Züge der Sprache, die ihr mit anderen sozialen Institutionen gemein sind, nämlich diejenigen, welche mehr oder weniger von unserm Willen abhängen; auf diese Weise trifft man aber auch nicht das Richtige, indem man diejenigen Eigenschaften außer acht läßt, die nur den semeologischen Systemen im allgemeinen und der Sprache im besonderen angehören. Denn das Zeichen ist immer in einem gewissen Maß vom Willen des Einzelnen oder der Gemeinschaft unabhängig – das ist seine wesentliche Eigenschaft; aber es ist diejenige, welche sich am wenigsten auf den ersten Blick zeigt. / Diese Eigenschaft also zeigt sich nur in der Sprache deutlich, da aber gerade in solchen Dingen, die am wenigsten untersucht werden; infolgedessen erkennt man die Notwendigkeit oder den besonderen Nutzen einer semeologischen Wissenschaft nicht recht. Für uns dagegen ist das sprachwissenschaftliche Problem vor allem ein semeologisches, und alle unsere Darlegungen gewinnen ihre Bedeutsamkeit von dieser wichtigen Tatsache. Wenn man die wahre Natur der Sprache entdecken will, muß man ihr zuerst das ins Auge fassen, was sie mit allen andern Systemen der gleichen Ordnung gemein hat; und sprachliche Faktoren, die auf den ersten Blick als sehr wichtig erscheinen (z. B. die Betätigung der Sprechwerkzeuge), dürfen nur in zweiter Linie in Betracht gezogen werden, indem sie dienen, die Sprache von andern Systemen zu unterscheiden. Auf diese Weise wird man nicht nur das sprachliche Problem aufklären, sondern ich meine, daß mit der Betrachtung der Sitten und Bräuche usw. als Zeichen diese Dinge in neuer Beleuchtung sich zeigen werden, und man wird das Bedürfnis empfinden, sie in die Semeologie einzuordnen und durch die Gesetze dieser Wissenschaft zu erklären. (Ebd., 20 f.)
4 Was Dilthey mit Marx und Engels verbindet, ist, daß er, wie sie, geschichtliche und gesellschaftliche Strukturen zu erhellen sucht, die unserer Erfahrung und unseren Vorstellungen apriorisch zugrunde liegen. Dabei gilt seine Aufmerksamkeit aber nicht der Basis, sondern dem Überbau.
5 „Um sich zu vergegenwärtigen, daß die Sprache nichts anderes als ein System von bloßen Werten ist, genügt es, die beiden Bestandteile zu berücksichtigen, welche beim Ablauf der Vorgänge im Spiele sind, nämlich die Vorstellung und die Laute. / Psychologisch betrachtet ist unser Denken, wenn wir von seinem Ausdruck durch die Worte absehen, nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse. Philosophen und Sprachforscher waren immer darüber einig, daß ohne die Hilfe der Zeichen wir außerstande wären, zwei Vorstellungen dauernd und klar auseinander zu halten. […] / Die Beliebigkeit des Zeichens läßt uns auch besser verstehen, warum nur der soziale Zustand ein sprachliches System zu erschaffen vermag. Die Gesellschaft ist notwendig, um Werte aufzustellen, deren einziger Daseinsgrund auf dem Gebrauch und dem allgemeinen Einverständnis beruht. Das Individuum ist allein für sich außerstande, einen Wert festzusetzen. […] / Tatsächlich beruht jedes in einer Gesellschaft rezipierte Ausdrucksmittel im Grunde auf einer Kollektivgewohnheit, oder, was auf dasselbe hinauskommt, auf der Konvention. Die Höflichkeitszeichen z. B., die häufig aus natürlichen Ausdrucksgebärden hervorgegangen sind (man denke etwa daran, daß der Chinese seinen Kaiser begrüßte, indem er sich neunmal auf die Erde niederwarf), sind um deswillen doch nicht minder durch Regeln festgesetzt; durch diese Regeln, nicht durch die innere Bedeutsamkeit, ist man gezwungen, sie zu gebrauchen.“ (Ebd., kombiniert aus 80, 132 f., 135)
6 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 158.
7 Ders., Ueber die vierfache Wurzel des Seins, 163.
8 Ebd., 115.
9 Nietzsche, Fragment 14 [79], Abt. 8/Bd. 3, 50.
10 Ders., Die fröhliche Wissenschaft, Abt. 5/Bd. 2, 275.
11 Ders., Fragment 9 [144], Abt. 8/Bd. 2, 82.
12 Ders., Fragment 14 [82], Abt. 8/Bd. 3, 54.
13 Die Hauptpointe des Saussuresschen Zeichenmodells besteht ja darin, daß Zeichen keinen eigenen positiven Wert haben und (ihre) Bedeutung nur, weil sei sich von (allen) anderen Zeichen unterscheiden (vgl. Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 104 ff.). Es ist die als solche sich entziehende Differenz zwischen diesem und jenem (Zeichen), die Bedeutung hervorbringt.
14 Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein, das selbst verborgen bleibt. Anders gesagt: Das, was da ist, ist nicht das Sein, weil das Sein die Daheit oder Istheit dessen ist, was als Seiendes ek-sistiert (= aus dem Sein heraustritt). Das Sein ist das fundamentale Es gibt, das in jeder einzelnen Sache und in jedem Sprechakt als Gabe sich ereignet. Es ist die als solche sich entziehende Differenz zwischen dem, was da ist, und jenem Urgrund, der macht, daß es etwas und nicht nichts gibt, die den Sinn- und Bedeutungshorizont unserer Ek-sistenz eröffnet.
15 „Keimung, Dissemination. Es gibt keine erste Befruchtung [insémination]. Der Samen ist im Anfang zerstreut. Die ›erste‹ Befruchtung ist Dissemination. Spur, Pfropfung, deren Spur man verliert. Bis es sich um etwas handelt, was man ›Sprache‹ nennt (Diskurs, Text etc.) oder ›echte‹ Aussaat, jedes Wort [terme] ist bereits ein Keim, jeder Keim ist bereits ein Ausdruck [terme]. Das Wort, das atomare Element, bringt sich hervor, indem es sich teilt, aufpropft, rasch vermehrt.“ (Derrida, La dissémination, 337 f.)
16 Vgl. dazu Edmund Husserls Spätschrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno-menologie (1936) und Martin Heideggers Sein und Zeit (1927).
17 Die Ur-Schrift (archi-écriture) „ist von einer Anwesenheit her undenkbar, deren Lebendigkeit sich selbst innerlich wäre. Das Eigene der lebendigen Gegenwart ist ursprünglich eine Spur. […] Man muß das ursprüngliche Sein von der Spur her denken und nicht umgekehrt.“ (Derrida, La voix et la phénomène, 101)
18 „Konfrontiert mit technischen und ökonomischen Bedingungen, die mit den Eigenschaften des Milieus verbunden sind, bleibt der Geist nicht passiv. Er reflektiert nicht seine Bedingungen; er reagiert darauf, und verbindet sie logisch zu einem System. Das ist nicht alles; denn der Geist reagiert nicht nur auf das Milieu, das ihn umgibt, er hat auch Bewußtsein von den verschiedenen Milieus, die existieren, und von ihren Bewohnern, die darin reagieren, jedes Volk auf seine Weise. Präsent oder absent, alle diese Milieus fügen sich ein in ideologische Konstruktionen, die sich anderen, ihrerseits mentalen, Zwängen fügen, welche Gruppierungen verschiedenen Geistes zwingen, denselben Entwicklungen zu folgen.“ (Lévi-Strauss, Le regard éloignée, 146)
19 Lévi-Strauss, Tristes tropiques, 352 f.
20 Ebd., 354.
21 Tatsächlich entstanden allererste Formen der Verschriftung in dem Augenblick, wo privates Eigentum aufkam und Klassen sich bildeten. Die Schrift ermöglichte, Gegenstände dauerhaft als Besitz zu kennzeichnen und Besitzstände zu inventarisieren. – Zur Frühestgeschichte der Schrift vgl. Schmandt-Besserat, The earliest precursors of writing, 38-47; dies., Before Writing. – Zur Genese der Schrift s. auch Diamond, Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human History, 215-238.
22 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 13, 8.
23 Derrida, De la grammatologie, 182.
24 „On sait maintenant, à partir d’informations certaines et massives, que la genèse de l’écriture (au sens courant) a été presque partout et le plus souvent liée à l’inquiétude généalogique.“ (Ebd.)
25 Vgl. Lévi-Strauss, La vie familiale et sociale des Indiens Nambikwara, 123.
26 Derrida, De la grammatologie, 185 f.
27 Falsch sei, daß „das soziale Leben, daß die Beziehungen zwischen Mensch und Natur, eine Projektion sind, wenn nicht sogar ein Resultat eines Begriffsspiels, das im Geist sich abspielt. […] Was wir zeigen wollen, ist, daß die Dialektik des Überbaus, wie die der Sprache, darin besteht, konstitutive Einheiten zu setzen, die diese Rolle nur spielen können unter der Bedingung, in einer unzweideutigen Weise definiert zu werden, das heißt, indem man sie paarweise kontrastiert, um anschließend, vermittels dieser konstitutiven Einheiten, ein System auszuarbeiten, welches am Ende die Rolle eines synthetischen Operators zwischen der Idee und der Tatsache spielen wird, indem es letztere in ein Zeichen verwandelt.“ (Lévi-Strauss, La pensée sauvage, 159 ff.)
28 Derrida, De la grammatologie, 188.
29 Lévi-Strauss, La pensée sauvage, 28-30.
30 Ders., Tristes tropiques, 353.
31 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 98.
32 Lévi-Strauss, Le regard éloignée, 146.
33 Ebd.
34 Derrida, L’écriture et la différance, 409-428.
35 Ebd.
36 Materie meint hier physikalisch: die Reziprozität von Energie von Masse, chemisch: die Struktur einer Ansammlung von Atomen bzw. die räumliche Anordnung von Molekülen.
37 Vgl. Derrida, Positions, 52-125.
38 Man darf daran erinnern, daß jedwede außersprachliche Referenz bzw. Referentialität als solche zu leugnen, das Hauptziel des Derridaschen Dekonstruktivismus ist: „[M]an muß erkennen, daß die Differenzen […], die zwischen den Elementen erscheinen oder sie vielmehr produzieren, sie als solche plötzlich auftauchen lassen und Texte, Ketten und Systeme von Spuren konstituieren. […] [Man kann nicht] den Text auf etwas anderes hin übertreten, auf einen Referenten hin (realiter [sic!], metaphysisch, geschichtlich, psycho-biographisch, etc.), oder auf ein Signifikat außerhalb des Textes hin […]. Das ist, weshalb die methodologischen Überlegungen, die wir hier wagen, eng zu den allgemeinen Propositionen gehören, die wir, was die Abwesenheit des Referenten oder des transzendentalen Signifikats anlangt, erarbeitet haben. Es gibt kein Text-Äußeres.“ (Ders., De la grammatologie, 95 u. 227)
39 Ders.: Positions, 88.
40 Dazu ausführlich Dick, Welt, Struktur, Denken. Philosophische Untersuchungen zu Claude Lévi-Strauss, 169-173 u. 181-201.
41 Lévi-Strauss, La pensée sauvage, 144.
42 Ders., Mythos und Bedeutung, 166.
43 Die bzw. eine langue ist ein strukturelles Regelwerk oder Inventar, das, als Bedingung seiner Möglichkeit, jeden Signifikationsvorgang erst ermöglicht. Sie weist den einzelnen Elementen eines Zeichen-Systems eine Funktion zu und bestimmt dadurch ihren Wert sub specie des Ganzen. Die bzw. eine langue ist, anders gesagt, ein System differentiell bestimmter Werte, die mit- und gegeneinander eine ideelle Ordnung hervorbringen, deren überindividuelle Realität sich im Überbau manifestiert. — Besonders wichtig ist hier, daß so, wie die einzelnen Elemente eines einzelnen Zeichen-Systems ein Bedeutungsganzes bilden, auch die verschiedenen ideellen Ordnungen ihrerseits mit- und gegeneinander auf einer höheren Ebene ein Bedeutungsganzes konstituieren: den Überbau.
44 Lévi-Strauss, La pensée sauvage, 160.
45 Ebd., 285.
Literatur
Derrida, Jacques. L’écriture et la différance. Paris 1967 Ders. De la grammatologie. Paris 1967
Ders. La voix et la phénomène. Paris 1967 Ders. Positions. Paris 1972.
Ders. La dissémination. Paris 1972.
Diamond, Jared: Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human History. New York 1997
Dick, Marcus. Welt, Struktur, Denken. Philosophische Untersuchungen zu Claude Lévi-Strauss. Würzburg 2009
Lévi-Strauss, Claude. 1948. „La vie familiale et sociale des Indiens Nambikwara“. Journal de la Société des Américanistes, Vol. 37, 1–132
Ders. Tristes tropiques. Paris 1955 Ders. La pensée sauvage. Paris 1962
Ders. Mythos und Bedeutung. Frankfurt a. M. 1980 Ders. Le regard éloignée. Paris 1983
Marx, Karl, MEW, Berlin 1956 ff.
Nietzsche, Friedrich. Kritische Gesamtausgabe. Berlin 1967 ff.
Saussure, Ferdinand de. Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 2001
Schmandt-Besserat, Denise. 1978. „The earliest precursors of writing“. Scientific American 238.6, 38-47
Dies. Before Writing. Austin 1992
Schopenhauer, Arthur. Die Welt als Wille und Vorstellung I. Werke Bd. 3, Zürich 1977
Ders. Ueber die vierfache Wurzel des Seins. Werke Bd. 5