
Renate Wahsner, Berlin
Der Vorzug des Zerreißens
„Was die Schwierigkeit macht“ – sagt Hegel – „ist immer das Denken, weil es die in der Wirklichkeit verknüpften Momente eines Gegenstandes in ihrer Un- terscheidung auseinanderhält. Es hat den Sündenfall hervorgebracht, indem der Mensch vom Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen, es heilt aber auch diesen Schaden.“1 Mithin können wir die Bewegung nicht denken, nicht vorstellen, nicht einmal wahrnehmen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, ohne das Lebendige zu zerstückeln, abzutöten, ohne das Kontinuierliche zu unterbrechen, zu zerreißen.2
Ist man sich dieses Mangels, der unvermeidbaren Notwendigkeit dieses Mangels, bewußt, kann man ihn beheben, genauer gesagt: kompensieren.
Man kann ihn „beheben“ durch das spekulative Denken, durch eine dialektische Philosophie – so man diese nicht als Wissenschaftsverbesserung oder gar Wissenschaftsersatz versteht und wenn man notwendige Stufen nicht ausspart, sondern begreift, daß das Wesen und der Sinn der Philosophie, vor allem einer dialektischen Philosophie, darin besteht, die durch die Eigenart des Erkennens bedingte Trennung der Momente aufzuheben, sie in ihrer Einheit zu denken. Die Verstandestätigkeit, das sogenannte analytische Erkennen, vor allem aber das naturwissenschaftliche bzw. überhaupt das fachwissenschaftliche Denken3 werden so als Voraussetzung des dialektischen Denkens, als Voraussetzung für die philosophische Erkenntnis genommen, das Zerreißen als Voraussetzung der Synthese.
Aber nicht nur daß zerrissen wird, ist maßgeblich, sondern die Art des Zerreißens bestimmt die Art bzw. die Möglichkeit der Synthese. (Vor allem muß der entscheidende Unterschied des wissenschaftlichen Denkens sowohl zum Alltagsdenken als auch zum rein analytischen Denken beachtet werden.)
Hegels Weg der Konkretion
Im Gegensatz zu Leibniz wurde Hegel die Unvermeidlichkeit des Zerreißens und dessen indirekt erkenntnisfördernder Charakter bewußt. Er wollte – belehrt durch die Kantische Philosophie – das Denkprinzip der neuzeitlichen Wissenschaft in seinem Verhältnis zur Philosophie auf den Begriff bringen, dargestellt als eine dialektische Logik, als eine Logik des spekulativen Denkens.4
Nach Hegel bestimmt sich die höchste Aufgabe der Philosophie dahin, „die Einheit des Denkens und Seins, welche ihre Grundidee ist, selbst zum Gegenstande zu machen und sie zu begreifen, d. i. das Innerste der Notwendigkeit, den Begriff zu erfassen“.5
Dies wird oftmals mißverstanden: sei es unreflektiert mechanizistisch bzw. lebensweltlich als These der unmittelbaren Identifizierung von Denken und Sein, oder es wird philosophisch durchdacht im Sinne eines idealistischen Monismus aufgefaßt.
Ersteres Verständnis übersieht die notwendige Entzweiung als Bedingung für das Bedürfnis nach Philosophie,6 übersieht, daß die Einheit zum Gegenstand gemacht werden muß, man sie nicht als selbstverständlich unterstellen darf, sondern sie entwickeln muß. Auch zu denken, dass man denkt, führt noch nicht zu der erstrebten Einheit.
Das zweitgenannte Verständnis überdenkt nicht konsequent die Möglichkeit einer anderen als der Hegelschen Lösung, prüft nicht, ob Hegel immer konsistent argumentiert – bzw. ob es einen Monismus geben kann, auch wenn ein Unerkanntes unvermeidbar ist.
Den abstrakten Gegensatz von Denken und Sein sieht Hegel als die höchste Entzweiung, um deren Aufhebung es der Philosophie zu tun sein muß.7 Nur wegen der Entzweiung eines ursprünglich Zusammengehörigen gibt es Subjekt und Objekt, Gut und Böse, stehen sich Mensch und Gott, Sinnliches und Übersinnliches, Bedingtes und Unbedingtes, Absolutes und Relatives, Unendliches und Endliches gegenüber.8 Diese Entzweiung soll aufgehoben, die Gegensätze sollen „versöhnt“ werden, indem beide zur Identität entwickelt und bejaht werden. Ihre (absolute) Identität drückt sich als Antinomie aus.9 Sie zeigt, daß der Gegensatz real ist (jede Seite für sich ist ideell). Die Identität faßt Hegel als transzendentale Anschauung. In ihr ist alle Entgegensetzung aufgehoben, aller Unterschied der Konstruktion der Welt durch das Subjekt und der scheinbar davon unabhängigen Objektivität vernichtet. Das Bewußtsein dieser Identität zu erzeugen bestimmt Hegel als Spekulation, „und weil Idealität und Realität in ihr eins ist, ist sie Anschauung“.10 Das transzendentale Wissen ist demnach Reflexion und Anschauung, Begriff und Sein zugleich.11 – Hegel beschreibt das, worauf er abzielt.
Aber man muß schon fragen, warum die Synthese bzw. Einheit der Entzweiten als Identität gedacht wird. Später allerdings heißt es dann Idee bzw. Absolutes. Dennoch wird man den Verdacht nicht los, daß der Begriff eines echten Gegeneinander (wie es der „Prinzip des kollektiven Individuums“ genannte ist)12 fehlt. (War es Hölderlins Gedanke, einen solchen Begriff zu suchen?13)
Hegel diskutiert an den Philosophemen der Neuzeit, vor allem an denen seiner Periode, ausführlich, wie die Aufhebung vollzogen werden muß. Eine echte Aufhebung wird seines Erachtens nicht erreicht, versucht man, das System aus einer an den Anfang gestellten Definition abzuleiten oder es durch einen ersten Grundsatz zu begründen bzw. durch ein Kausalverhältnis aufzulösen.14 Jeder Lösungsansatz, der ein Festes unterstellt, verfehlt die angestrebte Einheit, ebenso wie die Unterordnung einer Seite unter die andere. Ein Ausweg besteht darin, viele Anfänge zuzulassen, gar für unabdingbar zu halten –15 ein Ausweg, der nur gelingt, wird jeder Teil der Philosophie als ganze Philosophie begriffen.16 Zudem darf das Angestrebte nicht nur gefordert werden, sondern muß vom philosophischen System auch erzeugt werden können.
Obwohl Hegel es nicht sehr betont, gründet sein Ziel, die Entgegensetzung von Denken und Sein aufzuheben, in Kants epistemologischer Wende.17 Diese impliziert: Wie etwas völlig unabhängig von uns ist, das können wir nicht wissen. Denn es sind immer wir, die danach fragen, und die Antwort ist nicht unabhängig von der Frage. Und „wir“ heißt: das menschliche Subjekt als Gattung. Das Ich darf sich nicht als festes, unbezweifeltes Atom verstehen, sondern als Element einer Ordnung. Als solches ist es selbstredend bedingt, mithin nicht im abstrakten Gegensatz zum Erfragten, das Subjekt nicht frei vom Objekt und umgekehrt.
Wenn Hegel Leben als Einheitsprinzip faßt, als ein Prinzip, um die Teile und das Ganze, Subjekt und Objekt miteinander zu verbinden, die Entzweiten wieder zusammenzuführen und als Für-sich-Seiendes zu etablieren, so korrigiert er letztlich eine unzutreffende Betrachtungsweise (insbesondere der Mechanik) durch den Wechsel des Erkenntnisobjekts (von Materie zu Leben).
Doch bietet er mit seinem Vorgehen auch einen Ansatz, um die metaphysische Entgegensetzung von Kausalität und Finalität aufzuheben bzw. die philosophische Auffassung vom Status der Naturwissenschaft partiell zu korrigieren. Wenn Kant den Gedanken der inneren Zweckmäßigkeit für die neuzeitliche Philosophie erschlossen und ein organisiertes Produkt der Natur als ein solches bestimmt hatte, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist, so vertiefte Hegel den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit, indem er das Mittel als Werkzeug dachte, das Subjekt-Objekt-Verhältnis unter der Kategorie der Arbeit faßte.
Die konstituierende Rolle des Mittels, des Werkzeugs, für die Art und Weise, in welcher der Mensch seine Zwecke realisiert, erklärt nach Hegel den Übergang von den tierischen zu den menschlichen Bedürfnissen, begründet eine wirkliche Synthese von Subjektivität und Objektivität oder – so könnte man sagen – eine neugeschaffene Natur, eine vom Subjekt hervorgebrachte Objektivität. Sie erklärt den Übergang von der Gestalt des Verhältnisses Individuum – Gattung im Tierreich zu der in der „Welt des Geistes“.18
In der Welt des Geistes erhält sich die Gattung nicht, während die Individuen untergehen, sondern deren Entwicklung ist Bedingung für die Erhaltung der Gattung. Der entscheidende Unterschied im Subjekt-Objekt- bzw. im Individuum-Gattung-Verhältnis zwischen Tier und Mensch gründet nach Hegel darin, daß sich das Werkzeug erhält und damit auch die menschlichen Zwecke. Die Mittel der menschlichen Produktion, mithin auch die Technik, sind quasi die Gene der menschlichen Kultur, die Gene, welche die von der menschlichen Gattung errungene rationale und praktische Naturbeherrschung an die nachfolgenden Generationen vermittelt.19
Die Kategorie Arbeit für die Philosophie entdeckt zu haben, verdankt Hegel der englischen politischen Ökonomie. Indem er sie philosophisch verarbeitete, konnte er für die Lösung des philosophischen Grundproblems, den Gegensatz von Subjekt und Objekt zu überwinden, Elemente gewinnen, die der spekulativen deutschen Philosophie bislang fremd waren.
Zwar hat Hegel diesen Ansatz nicht konsequent durchgeführt, aber erkannt, daß die Arbeitsteilung die Gesellschaft zu einem neuartigen Ganzen macht, daß durch sie ein charakteristisches Menschlich- Allgemeines entsteht.20 Er bemerkt in diesem Zusammenhang, daß in diesem Allgemeinen das Bedürfnis als solches in seine vielen Seiten zerlegt wird, und er rezipiert dies als ein Auseinanderlegen des Konkreten.21
Auf die Frage, wie man zum Konkreten zurückkehrt, antwortet Hegel, da er das Allgemeine im Wert sieht: „Die Rückkehr zur Konkretion, dem Besitz, ist der Tausch.“22 Die Rückkehr zum Besitz ist für Hegel wesentlich, da dieser seines Erachtens etwas Substantielles ist, nicht nur Tätigkeit. Im Besitz hat die Tätigkeit ihm zufolge ihre ruhende Seite.23
Kritische Bemerkungen zu Hegels Weg
Mit der Überlegung, daß Gesellschaftlichkeit nicht nur oder erst durch Tausch von Produkten, also schon vorhandenen Gegenständen, entsteht, sondern auch Gegenstände und Tätigkeit gegeneinander getauscht werden, daß ein Bedürfnis, um ein konkretes zu sein, nicht das Bedürfnis eines Einzelnen sein muß, bietet sich hier ein entscheidender Ansatzpunkt für eine konstruktive Kritik der Hegelschen Logik und seines Weges zur Einheit von Denken und Sein.24
Da man ohne Konkretion, da man ohne das Konkret-Allgemeine zu erreichen (was nicht nur eine Rückkehr ist, also nicht etwas, das man schon kennt) nicht zur Totalität gelangt, kann Hegel sein Ziel im strengen Sinne nicht erreichen.25
Man kann zeigen, daß der Tausch nicht zum Konkret-Allgemeinen führt,26 sondern gefordert ist, Arbeit als werkzeugvermittelten Gattungsprozeß zu denken, als ein gegenständlich vermitteltes Gegeneinander von Subjekt und Objekt, derart, daß das Gegeneinanderverhalten weder dem einen noch dem anderen Etwas als An- sich-Eigenschaft zugeschrieben werden kann, das Gegeneinander aber auch nicht unabhängig von diesen Etwasen ist, diese nicht nur Stellen im System sind. So dies gelingt, wird Arbeit als ein Gegeneinander gedacht, bei dem „jedes der beiden Momente eine Einheit von Gegenständlichkeit und Verhalten ist“, nicht aber „das Subjekt der Arbeit auf bloße Tätigkeit oder bloßes Verhalten und ihr Objekt auf bloße Gegenständlichkeit reduziert wird“,27 womit beide Seiten gegeneinander verselbständigt werden und somit den Charakter abstrakter Bestimmungen annehmen, derart, daß Aktivität nur dem Subjekt, dem Objekt hingegen nur Passivität zugeschrieben wird. Erst wenn man dieses Konzept aufhebt, wird es möglich, die Natur als ein an sich selbst mit sich Vermittelndes zu denken, das nicht erst durch die Aktivität des Subjekts zu einem solchen wird. Und nur unter dieser Bedingung ist die Entzweiung von Subjekt und Objekt wirklich aufzuheben.
So kann man sagen, daß Hegels unzulängliche Konkretisierung maßgeblich in seinem Begriff der Arbeit gründet.28 Sie gründet aber auch in seinem nur partiell adäquaten Begriff Naturwissenschaft. Denn eine Auseinanderlegung des Konkreten vollzieht sich auch bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Damit wird es erforderlich, sich im Interesse der Aufhebung des Gegensatzes von Denken und Sein mit der naturwissenschaftlichen Größenbildung zu befassen (eine Ebene, die Hegel im Prinzip ausläßt).
Wenn von Hegel sowie von seinen Nachfolgern die Einheit von Denken und Sein, Begriff und Gegenstand der Philosophie als Besonderheit zugeschrieben wird, man meint, in den Einzelwissenschaften seien die Sachen und unsere Gedanken, die Begriffe und Logoi, jedoch verschiedene,30 so irren sie. Es ist dies nicht so. Den einzelwissenschaftlichen Gegenstand gibt es nicht an sich, über den sich dann die entsprechende Theorie Gedanken macht, sondern er ist das, was die jeweilige Wissenschaft darüber sagt. (Das erkennt man natürlich nicht, wenn man ein Blümchen für einen naturwissenschaftlichen Gegenstand hält.)
Allerdings gibt es zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft bedeutende Unterschiede. So hat die Philosophie ein Problem, das die Einzelwissenschaften nicht haben. Sie müssen sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, sich nicht selbst denken, und sie können es nicht.31 Dieser Unterschied ergibt sich aus der für die Naturwissenschaften (überhaupt die Fachwissenschaften) erforderlichen Fassung der Welt unter der Form des Objekts im Gegensatz zu der philosophischen Fassung der Welt unter der Form des Subjekts (verstanden als Gattungswesen), als Subjekt-Objekt-Einheit.32
Die Objekte der Naturwissenschaft sind keine Dinge, Gegenstand der Naturwissenschaft ist auch nicht die Beziehung oder die Bewegung von Dingen, sondern die Bewegung selbst, die Bewegung als substantiviertes Verhalten. Den Gegenstand der Wissenschaft so zu denken wird durch das neuzeitliche Denkprinzip ermöglicht (und erfordert), durch das Prinzip, wonach – vereinfacht gesagt – nicht das Sein das Verhalten, sondern das Verhalten das Sein bestimmt.33 Der neuzeitliche Umbruch impliziert, daß das Ding, das Element oder der Gegenstand nicht als bestimmt vorgegeben genommen, sondern als durch die Bewegung, durch den Vorgang oder das Verhalten erzeugt wird (ohne es in Verhalten aufzulösen).
Das naturwissenschaftliche Denken ist auf dem Weg zur Philosophie (wie Hegel sagt: zum absoluten Wissen) eine notwendige Stufe. Dies schon deshalb, weil die Philosophie für sich keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit hat. Der Gedanke muß den Weg über die Fassung der Welt unter der Form des Objekts, eines bestimmten Zerreißens, genommen haben, um die Subjekt-Objekt-Einheit denken zu können. Dabei ist die wissenschaftliche Form dieser Weltfassung nicht mit dem Alltagsdenken, dem gewöhnlichen Bewußtsein, gleichzusetzen,34 sondern maßgeblich verschieden.
Negiert man nicht lediglich den gesunden Menschenverstand, sondern erkennt das fachwissenschaftliche Denken – in seinem wirklichen Status – als notwendige Voraussetzung der spekulativen (also der dialektischen) Philosophie, so kann man hoffen, einen Ansatzpunkt zu finden, um die Unzulänglichkeiten des Hegelschen Konzepts zu beseitigen.
Wenn die Physik, wenn die Naturwissenschaft die Welt unter der Form des Objekts betrachtet, so unterstellt sie eine objektive Außenwelt, unterstellt somit, daß es etwas gibt, etwas außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein, etwas, das im Prinzip erkannt werden kann, wenn auch niemals total erkannt ist. Sie setzt also ein Etwas voraus, aber eben nicht einen vorhandenen Gegenstand, über den die Theorie dann dies oder jenes sagt, sondern der Gegenstand zeigt erst in der von der Theorie gefaßten Bewegung, was er ist. Der Begriff dieser Etwase ist mithin erst mit der jeweiligen ausgebildeten Theorie gewonnen, mithin nur als Moment des Verhältnisses Gegenstand – Verhalten resp. Gegenstand – Bewegung zu begreifen, als Moment, das erst durch dieses Verhältnis bestimmt wird.
In den Größen, mit denen die Physik operiert, wird Verhalten substantiviert – allerdings nicht das Verhalten als totum, sondern aus der Mannigfaltigkeit des sinnlich-konkreten Verhaltens wird eines isoliert und als Größe substantiviert. Insofern sind Größen keine Konkreta, aber auch nicht etwas nur Gedachtes, sondern sie erfassen etwas Wirkliches, etwas Seiendes. Sie bilden in ihren Beziehungen eine ideale Welt.35 Hierin gründet die Unterscheidung von Naturgegenstand und Gegenstand der Naturwissenschaft, die erkannt sein muß, soll der Gegensatz von Denken und Sein aufgehoben werden.36
Hegels Bestimmung des absoluten Wissens, eines Wissens, in dem der Gegensatz von Bewußtsein und Gegenstand des Bewußtseins aufgehoben ist – derart, daß in der Einheit der Gegensatz und in dem Gegensatz die Einheit gewußt wird, und die Wissenschaft dies ist, diese Einheit in ihrer ganzen Entwicklung durch sich selbst zu wissen –,37 muß in der Weise rezipiert werden: Insofern die Welt niemals total erkannt und angeeignet ist, bleibt beim Zusammenschluß von Objekt und Subjekt, von Mensch und Natur, immer Unerkanntes, Nichtangeeignetes. Hierüber kann man nichts sagen, aber man muß mitdenken, daß es existiert. Der Mensch muß sich, um Mensch sein zu können, die Natur aneignen, aber er wird nie Eigentümer oder absoluter Beherrscher der Natur sein. Die spekulative Philosophie muß diesen Gedanken in sich aufnehmen.
Eine Lösung dafür, daß das möglich ist, ohne des Monismus verlustig zu gehen, erforderte eine Kritik und eine sich aus ihr ergebenden Neufassung einiger Hegelschen Begriffe (z.B. Möglichkeit – Wirklichkeit, Verhältnis, Arbeit, Naturwissenschaft). Entwicklung müßte so konzipiert werden können, daß sie – auf der Basis des Sachverhalts, daß jede Lösung ein neues Problem gebiert – die Produktion neuer Möglichkeiten denkbar macht.
Resümee
Hegel hat erkannt, daß ohne Zerreißen Erkenntnis nicht möglich ist, das Zerreißen aber die „Erkenntnis“ verfälscht. Man muß sich des unvermeidlichen Zerreißens und Verfälschens bewußt sein und nach einem Weg suchen, dieses Dilemma zu lösen. Dabei zählt nicht der kürzeste Weg, sondern der „wahre“. Es sind somit alle möglichen Formen des Zerreißens zu suchen und zu analysieren.
Wesen und Sinn der Philosophie, die als Philosophie dialektisch sein sollte, besteht hiernach darin, die durch die Eigenart des Denkens bedingte Trennung der Momente aufzuheben, sie in ihrer Einheit zu denken. Die Verstandestätigkeit bzw. das sogenannte analytische Erkennen, vor allem aber das (natur)wissenschaftliche Erkennen (Denkformen, die keinesfalls identisch sind), wird so als Voraussetzung des dialektischen Denkens, als Voraussetzung für die philosophische Erkenntnis begriffen.
Ohne zu wissen, wie in den genannten Formen auseinandergelegt wird, ist eine Synthese nicht möglich, die Konkretion nicht zu erreichen.
Um die Hegelsche Dialektik zu entzerren, ist es vor allem unabdingbar, den erkenntnistheoretischen Status der meßtheoretisch begründeten Naturwissenschaft aufzuklären – eine Aufgabe, die zu lösen nur notwendig, nicht hinreichend ist. Denn Dialektik als Negation der Isolierung wird sich unterscheiden, je nachdem, welcher Art die Isolierung ist, die aufgehoben werden muß. Es ist daher sowohl zu untersuchen, wie diese Isolierung im Hegelschen System bestimmt ist als auch wie sie sich vom Standpunkt der modernen Wissenschaft aus darstellt.
Endnoten
1 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe unter der Redaktion von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 18, 314.
2 Vgl. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Wider das Trennen von Verstand und Vernunft, in: dies., Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff, Darmstadt 1989, insbes. 1-8.
3 Zur epistemologischen Stellung der Naturwissenschaft zu den verschiedenen Erkenntnisstufen vgl. z.B.: R. Wahsner, Naturwissenschaft zwischen Verstand und Vernunft, in: Vom Mute des Erkennens. Beiträge zur Philosophie. G.W.F. Hegels, hg. von M. Buhr und T. I. Oiserman, Berlin 1981, 183-203; dies., Tausch – Allgemeines – Ontologie. Oder: Das Auseinanderlegen des Konkreten und seine Aufhebung. Preprint 451 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2013; H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Das physikalische Prinzip. Der epistemologische Status physikalischer Weltbetrachtung, Würzburg 2012.
4 Ausführlicher dazu: R. Wahsner, “Das Bedürfnis einer Umgestaltung der Logik ist längst gefühlt”. Hegels Anliegen und der Mißbrauch einer dialektischen Methode, in: Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart, hg. von A. Knahl, J. Müller und M. Städtler, Lüneburg 2000 und 2011, 205-235.
5 G.W.F. Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie III, in: G.W.F. HegeL, Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe unter der Redaktion von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 20, S. 314. Kommentierend dazu: R. Wahsner, Zur Aufhebung des Gegensatzes von Bewußtsein und Gegenstand des Bewußtseins bzw. von Denken und Sein (XXIX. Internationaler Hegel-Kongreß, Istanbul, 3.-6. 10. 2012), in: Hegel-Jahrbuch. Hegel gegen Hegel, Berlin (im Druck); dies. Tausch – Allgemeines – Ontologie. Oder: Das Auseinanderlegen des Konkreten und seine Aufhebung. Preprint 451 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2013.
6 Vgl. G.W.F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke, Bd. 2, 20–25.
7 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie III, 65. – Etwas ausführlicher behandelt wird das Thema in: R. Wahsner, Kann eine moderne Naturphilosophie auf Hegelsche Prinzipien gegründet werden? Spekulatives und naturwissenschaftliches Denken, Preprint 427 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2012.
8 Vgl. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke, Bd. 8, 21 (Vorrede zur zweiten Ausgabe), 80–106 (§§ 23–36).
9 Vgl. G.W.F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, S. 39.
10 Vgl. ebd., 43.
11 Vgl. ebd., 42.
12 Vgl. R. Wahsner, Die fehlende Kategorie. Das Prinzip der kollektiven Einheit und der philosophische Systembegriff, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXXI (1999), Wien 2000, 43–60.
13 Vgl. F. Hölderlin, Urteil und Sein, in: Sämtliche Werke, hg. von F. Beißner, Leipzig 1965, 947-948; D. Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus, in: Hölderlin-Jahrbuch, 14 (1967), 73–96.
14 Vgl. G.W.F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, 23, 36, 54.
15 Vgl. hierzu G.W.F. Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie I, in: Werke, Bd. 18, 167–170; ders., Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie III, 454–462; H. Glockner, Hegel. Schwierigkeiten und Voraussetzungen der Hegelschen Philosophie, Stuttgart 1954, 17–19, 28, 30, 33.
16 Vgl. F.W.J. Schelling (G.W.F. Hegel), Über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, in: Kritisches Journal der Philosophie 1802/1803, Leipzig 1981, 164-209; G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke, Bd. 8, 60 (§§ 15, 16).
17 Vgl. R. Wahsner, Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus. Kant und Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwissenschaft, Hürtgenwald 2006.
18 Vgl. hierzu R. Wahsner, „An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußere Natur“. Hegels Rezeption des τέχνη -Begriffs in seiner Logik«, in: Jahrbuch für Hegelforschung 2002/2003, hg. v. H. Schneider, Sankt Augustin 2004, 173–195; dies., Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208). Zu Hegels Bestimmung der Betrachtungsweisen der Natur, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXXIV (2002), Wien 2003, 101–142; dies., Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus, insbes. 231–252.
19 Vgl. R. Wahsner und H.-H. v. Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft, Frankfurt a.M. u.a. 1992, 251.
20 Vgl. z.B. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, 346– 351 (§§ 189–195).
21 Vgl. G.W.F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie, neu hg. v. K. Düsing und H. Kimmerle, Hamburg 1986, 229–231.
22 G.W.F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hg. v. R.-P. Horstmann, Hamburg 1987, 207.
23 Vgl. G.W.F. Hegel. Jenaer Systementwürfe I, insbes. 229-231. Zur weiteren Kritik dieses Standpunktes siehe R. Wahsner, Tausch — Allgemeines — Ontologie. Oder: Das Auseinanderlegen des Konkreten und seine Aufhebung, insbes. 32-45.
24 Vgl. R. Wahsner, Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus, 238–252.
25 Ausführlicher dazu: R. Wahsner, Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208).
26 Ausführlich dazu R. Wahsner, Tausch — Allgemeines — Ontologie. Oder: Das Auseinanderlegen des Konkreten und seine Aufhebung.
27 Vgl. P. Ruben und C. Warnke, Telosrealisation oder Selbsterzeugung der menschlichen Gattung, in: Dt. Zs. für Philosophie 27 (1979), 20–30, 25.
28 Vgl. R. Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt a.M. u.a. 1996, 17, 93, 120, 176–181. 29 Vgl. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Das physikalische Prinzip. Der epistemologische Status physikalischer Weltbetrachtung, Würzburg 2012.
30 Vgl. J. König, Das spezifische Können der Philosophie als εὖ λέγειν, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Freiburg 1978, 21.
31 Vgl. G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, in: Werke, Bd. 6, 490.
32 Vgl. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner insbes. S. 248–264, 265–272.
33 Vgl. hierzu H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Erkenntniskritische Betrachtungen zur Physik, Preprint 330 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2007, 40 (Anmerkung 168).
34 Vgl. ausführlich hierzu: H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Das physikalische Prinzip, sowie die darin zitierte Literatur.
35 Zu dieser Problematik siehe: H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Zur Beziehung von experimenteller Methode und Raumbegriff, in: Dt. Zs. für Philosophie 28 (1980), 685– 696.; dies., Die Wirklichkeit der Physik, insbes. 239–285.
36 Vgl. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Das physikalische Prinzip, 174–180.
37 Vgl. G.W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke, Bd. 20, 460.