
Reinhard Jellen, München
Rezension: Die widersprüchliche Gerechtigkeit
Eine Rezension von Elmar Treptows jüngstem Buch
Die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft ließ Karl Marx im besten Falle als heroische Selbsttäuschungen im Kampf gegen den Feudalismus gelten, generell stellten sie aber für ihn ideologische Konstrukte dar, hinter deren hochtrabenden Formulierungen sich faktisch ein kümmerlicher Inhalt verbirgt. Ihn scheint weniger ihre Existenz an sich interessiert zu haben, als die Art und Weise, wie sie sich an der Wirklichkeit blamieren (eine Sphäre, in der bekanntlich nicht Phrasen, sondern materielle Interessen den Ausschlag geben). Darüber hinaus sah er verschiedene Projekte kritisch, welche am Kapitalismus nur die schlechten Seiten abschaffen wollten und sich heutzutage im globalisierungskritischen Umfeld finden: Die Forderung nach “Gleichheit der Löhne” erklärte er für töricht, das “Recht auf Arbeit” in der bürgerlichen Gesellschaft für eine totale Illusion und die proudhonistische Arbeitsgeldlehre für “Stümperei”. Selten und wenn dann kritisch widmen sich Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Gesamtwerk auch dem Begriff “Gerechtigkeit”. Bei den wenigen Stellen, an denen der Terminus explizit Verwendung findet (in der klassischen Gerechtigkeitsschrift von Marx, der “Kritik des Gothaer Programms” kommt das G-Wort genau einmal vor), wird dieser im pejorativen Sinne gebraucht, etwa um den theologischen und abgehobenen Charakter einer Aussage zu unterstreichen oder die Hohlheit einer Phrase herauszustellen. Auch bei einer Marxistin wie Rosa Luxemburg wird das Wort nicht positiv gedeutet, sondern im Zusammenhang mit wenig schmeichelhaften Prädikaten wie “Limonade” oder “klapprige Rosinante” verwendet. So verwundert es auf den zweiten Blick vielleicht nicht, dass es nach dem Tod von Karl Marx, dessen Slogans und Sentenzchen aus dem “Kommunistischen Manifest” heutzutage gerne in den Feuilletons zitiert werden, gut 130 Jahre gebraucht hat, bis das Thema aus marxistischer Sicht in grundlegender Weise untersucht wurde.
Der Autor ist der emeritierte Münchner Philosophieprofessor Elmar Treptow, dessen Denkart – wie sich unschwer auch an diesem Buch feststellen lässt – nicht nur auf den Theorien von Karl Marx fußt, sondern auch den Einsichten von Aristoteles und Hegel Wesentliches zu verdanken hat. Treptow schiebt dem Gegenstand nicht, wie sonst üblich, eine überzeitliche Norm unter, mit dem dann die Empirie kritisiert werden soll, sondern er analysiert die Gerechtigkeit im Kapitalismus systematisch, stellt ihre spezifischen Bedingungen und Verlaufsformen dar und macht die dazugehörende bürgerliche Theoriebildung als gedankliche Komplementärbewegung zu einer besonderen historischen Praxis kenntlich, deren eigene Dynamik über sich selbst hinausdrängt. Mit seiner wissenschaftlichen Rekonstruktion kritisiert er den Gegenstand immanent.
Mit Marx kennzeichnet Treptow den entscheidenden Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaft in der Weise, dass die Menschen, die von unterschiedlichen Positionen aus am Markt teilnehmen, auf abstrakte Weise gleich gemacht werden, wodurch sich die vorhandenen Ungleichheiten potenzieren: Da die Waren auf dem Markt allgemein nach dem Wertgesetz, also nach dem Prinzip der darin durchschnittlich gesellschaftlich notwendig verausgabten Arbeitszeit getauscht werden, haben immer die Marktteilnehmer einen Wettbewerbsvorteil, die ihre Produkte mit größerer Geschwindigkeit produzieren. Denn sie können somit ihre Waren billiger feilbieten. Es wird also zu scheinbar gleichen Bedingungen getauscht, die Voraussetzungen für den Tausch sind aber ungleich, so dass aus dieser Gleichbehandlung Ungleichheit resultiert.
Dieses Strukturmerkmal kapitalistischer Gleichbehandlung findet seine Fortsetzung auf dem Arbeitmarkt, wo sich Lohnabhängige und Kapitalisten, als (scheinbar) ebenbürtige Vertragspartner gegenüberstehen: Denn da von den konkreten Bedingungen dieses Lohnarbeitsverhältnisses, der Besitz bzw. Nicht-Besitz von Produktionsmitteln, abstrahiert wird, entsteht daraus gleichfalls wachsende Ungleichheit: Der Lohnabhängige muss länger arbeiten, als zum Erhalt seiner Arbeitskraft notwendig ist, während der Kapitalist diesen Mehrwert einstreicht und wieder zum Zweck der Geldvermehrung als Kapital investieren kann. Dies führt nicht nur dazu, dass der Anteil der technologischen Komponenten im Vergleich zur menschlichen Arbeit wachsend zunimmt, sondern hat auch zur Folge, dass sich das Kapital als sachliche Gewalt konsolidiert und eine Eigenlogik entwickelt. Es kommt zu einer zunehmenden Verkehrung von Mensch und Sache: Der menschenproduzierte Waren- und Profitkreislauf entwickelt eine Eigendynamik, der sich alle unterzuordnen haben (und presst weitere Bevölkerungsgruppen unter das Kapitalverhältnis). Aus der durch das Kapitalverhältnis freigesetzten Ungleichheitsspirale, (deren Voraussetzung die der Industrialisierung vorangegangene Scheidung der ländlichen Produzenten von ihren Produktionsmitteln war) resultieren dann Diskrepanzen zwischen den produzierten Waren und der zahlungskräftigen Nachfrage, welche die Grundlage für soziale Krisen bildet.
Der Clou an Elmar Treptows Konzeption besteht nun darin, dass er diese wachsenden Ungleichheitsbeziehungen nicht von einer überhistorisch-moralischer Warte aus verwirft, sondern zeigt, dass diese dem bürgerlichen Begriff von Gerechtigkeit voll und ganz entsprechen: Denn diese basiert wesentlich auf dem Prinzip der Vertragsgleichheit, operiert mit der Tauschgerechtigkeit und ist auf die größtmögliche und kurzfristige Vermehrung der Investitionen ausgerichtet. Sobald eine bestimmte Position zwischen den Vertragpartnern ausgehandelt wurde und per Vertrag fixiert ist, ist deren Befolgung nach kapitalistischen Maßstäben gerecht. Ungerecht erscheinen dann nur noch Vorgehensweisen, die diesen Beziehungen entgegenstehen, wie etwa direkte physische Gewalt, Betrug, Sklaverei, Korruption, Insidergeschäfte, Verstöße gegen das Kartellrecht und sonstige Übertretungen vertraglicher und gesetzlicher Bestimmungen.
So ist es nach Treptow im Kapitalismus gerecht, wenn jemand, der unverschuldet arbeitslos wird, vor dem Bezug staatlicher Leistungen erst einmal sein Vermögen abschmelzen muss, während Manager, die Unternehmen an die Wand fahren, mit großzügigen Abfindungszahlungen belohnt werden. Dies ist zwar eine außerordentliche Ungleichbehandlung, gleichzeitig aber auch Ausdruck eines bestimmten Kräfteverhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital, welches – wie etwa die Lohnquote – nicht nur aus der ökonomischen Sachzwanglogik resultiert, sondern auch Ergebnis von außerökonomischen Auseinandersetzungen, mithin also ein Resultat von Klassenkämpfen (die ja heutzutage vorzugsweise von oben geführt werden), ist, die einen bestimmten Rechtshorizont zur Folge haben. Solange nicht gegen bestehendes Recht verstoßen wird, stellen also die sozialen Diskrepanzen im Kapitalismus keine Ungerechtigkeit dar.
Weiter ist nach Treptow für die Auseinandersetzungen zwi schen Lohnarbeitern und Kapitalisten charakteristisch, dass die Durchsetzung ihrer Interessen gleichzeitig dieselben untergräbt und errungene Vorteile sich mit der Zeit in Nachteile verwandeln können, weswegen eine gestärkte Nachfrage- bzw. Angebotspolitik die Interessen der Tarifparteien gleichzeitig fördert und torpediert: Bei großen Lohnzuwächsen ist es möglich, dass sich Waren verteuern und schlechter absetzen lassen, was zu Konkursen und Arbeitslosigkeit führen kann. Andererseits ist es, wenn die Löhne ein gewisses Niveau unterschreiten, nicht unwahrscheinlich, dass die hergestellten Waren keinen Absatz finden, was wiederum die Profite schmälert und ebenfalls zu Konkursen und Arbeitslosigkeit führt.
Dementsprechend wäre es also durchaus fraglich, ob beim momentanen Stand der gesellschaftlichen Produktion – die Produktivität hat die Akkumulation von Profiten deutlich überholt – nachdem die neoliberale Angebotspolitik bei der Behebung dieses Problems gescheitert ist bzw. weiter scheitern wird, die von Teilen der Linkspartei und Gewerkschaften heftig propagierte, weiterhin auf Vermehrung der Investitionen ausgerichtete Angebotspolitik, dazu angetan wäre, die aktuellen Krisenerscheinungen mehr als nur zeitweise zu kompensieren. Da von der Verteilung der Produktionsmittel bereits wesentlich die Verteilung der Konsumgüter abhängt, wäre es besser als für höhere Löhne allein zu kämpfen, einen Kampf gegen das Lohnarbeitsverhältnis überhaupt zu führen. Dieser Kampf, der nicht aufgrund einer abstrakten Norm, sondern der Einsicht in die in der Gesellschaft obwaltenden Tendenzen, Widersprüche und Möglichkeiten geführt wird, ist wiederum kein Unrecht, weil sich darin eine neue Gesellschaftsformation Bahn brechen kann, die eine komplexere Gerechtigkeit als die abstrakte Tauschgleichheit, nämlich die ungleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Individuen zur Basis haben könnte. Falls dies geschieht, würde also das Gerechtigkeitsprinzip einer spezifischen Produktions- und Gesellschaftsformation von dem einer anderen abgelöst werden.
In einem seiner Seminare hat Elmar Treptow einmal formuliert, “Gerechtigkeit” sei “die Frage, ob und inwiefern gleichen und ungleichen Personen Gleiches und Ungleiches zusteht.” In diesem Satz hat er bereits die wesentliche Komponenten benannt, die eigentlich in der aktuellen Gerechtigkeits-Diskussion enthalten sein müssten und die er in seinem Buch eingehend behandelt.
Elmar Treptow, Die widersprüchliche Gerechtigkeit im Kapitalismus. Eine philosophisch-ökonomische Kritik, Berlin, Weidler Verlag, 315 Seiten, kartoniert, 44 Euro.