Andreas Egger: Nochmals zur “Grundfrage der Philosophie”

Andreas Egger, Salzburg

Nochmals zur "Grundfrage" und zur Erkenntnistheorie

Einige Entgegnungen an Andreas Hüllinghorst
In seinem Aufsatz zur „Grundfrage der Philosophie“ in dieser Ausgabe nimmt Andreas Hüllinghorst1 mehrfach kritisch Bezug auf meine Darstellung der Widerspiegelungstheorie im vorherigen, ersten, Heft.2 Aus meiner Sicht gründen sich die meisten Kritikpunkte wohl auf Missverständnisse, anderen aber dürfte tatsächlich eine unterschiedliche Herangehens- und Sichtweise zu Grunde liegen. Ich darf daher zu einigen Punkten klärend Stellung nehmen. Denn wo Missverständnisse entstehen, dort ist zuvor dann vielleicht auch missverständlich formuliert worden. Wo unterschiedliche Positionen vorliegen, sollen diese dann auch kenntlich gemacht werden. Und noch ein weiterer Grund: Diese meine Entgegnung ist in gewisser Weise auch ein Auftakt und eine Einladung zu weiteren Debatten, Diskussionen, Kritiken, Entgegnungen in dieser Zeitschrift. Auch dafür will „Aufhebung“ ja ein Forum sein.

Eine Erkenntnistheorie entwickeln?

Schon das erste dieser – wie ich meine – Missverständnisse ist ein fundamentales. Hüllinghorst interpretiert meinen Aufsatz als Versuch, eine „Erkenntnistheorie unmittelbar aus der dialektisch- materialistischen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie heraus zu entwickeln“3. Ich wollte und musste es bescheidener geben – ich kann ja nichts entwickeln, was es bereits gibt. Die Widerspiegelungstheorie aber liegt vor – in systematisierter und weiter systematisierbarer Form. Insofern konnte ich nur einige mir wesentlich erscheinende Grundpositionen diskutieren.4

Der Autor nun zielt dagegen auf die „wissenschaftliche Entwicklung des Begriffes von Denken und Sein“5, die bei Engels fehlt. In diesem Zusammenhang gebe ich gerne zu, dass Hüllinghorsts Ansatz, die Grundfrage der Philosophie zu diskutieren, der im eigentlichen Sinn tiefer-philosophischere Ansatz ist, gegen den meiner wohl eher „referierend“ genannt werden muss. Dass dieser Aspekt also, eine exakte Diskussion der konstatierten Identität von Denken und Sein, bei mir fehlt, das ist sicher „ein Manko“.6 Ich nehme diese Kritik gerne an, auch weil ich aus ihr zu lernen glaube: das bei Engels Ausgeführte zu dieser Identität, ihr „Delegieren“ an die Erkenntnistheorie mit dem Wahrheitskriterium der praktischen Bewährung ist zwar nicht falsch, wer aber mehr haben will als diesen „pragmatischen“ Ansatz, etwas das „härter als plausibel“ (Hans Heinz Holz) wäre, muss – wie Andreas Hüllinghorst – philosophisch tiefer schürfen.

Materie und Bewusstsein / Objekt und Subjekt

Ich nannte in meinem Artikel neben den historischen, zeitgebundenen auch gegenständliche Determinanten jeder Erkenntnis. Gedanken, Theorien, so meinte ich, sind ja immer Gedanken und Theorien über konkrete Objekte, Gegenstände. Damit gerate ich unter Verdacht, in empirisches, vormarxistisches materialistisches Philosophieren zu verfallen. Denn Erkenntnistheorie ist ja auch immer ein „Denken des Denkens“. Und dieses ist „kein Objekt Denken, es ist eine andere Weise zu denken, die keinen Erfahrungshintergrund hat“.7

Ist es das? Wenn wir über das Denken denken, spiegeln wir ein Spiegelverhältnis – machen wir dieses damit nicht gerade zum Objekt, zum Erkenntnis-„Gegenstand“? Können wir an diesem Denken nicht auch eine „erfahrene“ Geschichte erkennen? Aber wahrscheinlich liegen Hüllinghorst und ich hier gar nicht im Dissens, könnte er doch mein Zeuge sein: „Der Begriff ist sich selbst sein (Denk-) Gegenstand“.8

Und noch einmal vormarxistischer Materialismus: Eine meine Intentionen war, eine auf Tätigkeit, Praxis hin definierte marxistische Widerspiegelungstheorie von vormarxistischen – „mechanischen“ – Abbildtheorien abzugrenzen. Ich wählte dazu jene von Demokrit und John Locke als Beispiele für diesen „anschauenden“ Materialismus. Allen materialistischen Abbildtheorien gemeinsam, so meinte ich weiter, sei allerdings die Sichtweise einer subjektunabhängigen objektiven Realität. Hüllinghorst wiederum kritisch: „Die Antwort früherer materialistischer Philosophien stimmt nicht mit der des Dialektischen Materialismus überein, denn vormarxistisch wird man wohl sagen, dass die Realität unabhängig vom Bewusstsein existiert. Für den Marxisten ist aber das Bewusstsein auch Realität, genauer Materie, Sein.“9

Ja, auch das Bewusstsein ist nur im Rahmen der „materiellen Einheit der Welt“ denkbar, steht ihr nicht „äußerlich“ gegenüber. Allerdings – es kommt eben auf den Standpunkt an – erkenntnistheoretisch macht es Sinn und ist es legitim, Materie und Bewusstsein einerseits entgegenzusetzen und die Frage zu stellen: Was ist letztlich das Primäre? Und, dialektisch-materialistisch, gemäß den Annahmen der Widerspiegelungstheorie, beide dann doch andererseits wieder zusammenzuführen: als Beziehung Abgebildetes und Abbild.

Ich widerspreche Andreas Hüllinghorst hier energisch: Die Sichtweise, dass das Abbild nicht ohne das Abgebildete existiert, das Abgebildete aber sehr wohl ohne das Abbild, ist aus meiner Sicht keineswegs eine Sichtweise des vormarxistischen Materialismus, es ist ein Grundpfeiler eines jeden Materialismus.

Einzelwissenschaft und Philosophie/Erkenntnistheorie

In meinem Artikel machte ich auch den Versuch, den Wert der Widerspiegelungstheorie anhand ihres Verhältnisses zu Einzelwissenschaften zu diskutieren. Ich verwendete dazu vorwiegend Beispiele aus der Psychologie. Mein Grundgedanke war, dass z.B. der Begriff „Bewusstsein“ sowohl einer der Psychologie als auch einer der Philosophie wäre, der philosophische Begriff von Bewusstsein aber einen höheren Grad an Allgemeinheit aufweise.

„Den Verallgemeinerungsgrad, den Egger der Philosophie zuordnet, legt nahe, dass die Philosophie durch Abstraktion der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisse zu ihren Begriffen kommt. Das ist nicht der Fall. Die Philosophie schafft sich ihre Begriffe selbst, denn ihr Denkgegenstand ist der Gesamtzusammenhang“.10

Tatsächlich, auch wenn keines der in der Folge von mir gebrachten Beispiele das bestätigen dürfte, einige meiner Formulierungen könnten – isoliert gelesen – so interpretiert werden.11

Selbstverständlich aber sehe ich philosophische nicht als „Destillat“ einzelwissenschaftlicher Begrifflichkeit. Ich bleibe beim Beispiel Philosophie und Psychologie. Eine Philosophie, wie – ich nehme an – Andreas Hüllinghorst und auch ich sie verstehen, orientiert letztlich auf den Gesamtzusammenhang, auf die allgemeinsten Gesetze der Natur, der Gesellschaft und des Denkens. Eine Einzelwissenschaft hat andere Ziele. Aber schließt dies aus, dass nicht auch Einzelwissenschaften Teilmaterialien zur Beantwortung grundlegender philosophischer Fragen liefern können, da diese ja Teilaspekte des Gesamtzusammenhangs abbilden? Ich denke, sie können es, und darf das an einem Beispiel demonstrieren: Es ist schon klar, was Andreas Hüllinghorst meint, wenn er die Entstehung des Selbstbewusstseins, des „Denken des Denkens“ beschreibt, und ich stimme dem prinzipiell auch zu:

„Mit diesem Denkakt ändert sich die Seinsstruktur des Bewusstseins. Es ist nicht mehr einfaches, natürliches, tierisches, sondern in sich reflektiertes, menschliches Bewusstsein, also Selbstbewusstsein“ 12

Es geht also um einen Bruch – aber es wird wohl ein Bruch innerhalb der Kontinuität der Geschichte des menschlichen Bewusstseins gewesen sein, es war nicht die Trennlinie zu „tierischem Bewusstsein“ und konnte es auch nicht sein, da es tierisches Bewusstsein nicht gibt. Es gibt auch Psychisches, Orientierungsleistungen, Stimmungen bei Tieren, aus denen sich das Bewusstsein evolutionär entwickelt hat, dennoch und deshalb ist dieses die genuin menschliche Form des psychischen Weltzuganges. Der Ratschlag einer dialektisch- materialistisch fundierten Psychologie hätte hier helfen können, eine geeignetere Formulierung zu finden.

Fußnoten

1 Hüllinghorst, Auf den Standpunkt kommt es an. Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie

2 Egger, Die fünf Sinne als Arbeit der Weltgeschichte. Eckpunkte einer materialistischen Erkenntnistheorie

3 Hüllinghorst, Auf den Standpunkt kommt es an. Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie, S 52

4 Dass dabei die „erkenntnistheoretische Seite“ der Grundfrage der Philosophie ( Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, S. 274 ff.) als einer der Ausgangspunkte stand, ist natürlich kein Zufall, da sich hier die Grundthesen der später so genannten Widerspiegelungstheorie skizziert finden und diese zudem, wie ich annehme, den bekanntesten und auch „einladendsten“ Einstieg bietet. Keineswegs aber ist dieser Einstieg der einzig geeignete. Man könnte in eine Erörterung der Widerspiegelungstheorie auch mit Marx‘ Worten, das Ideelle sei das im Menschenkopf umgesetzte und übersetze Materielle einführen (Marx, Das Kapital, Nachwort zur zweiten Auflage, S.27). Die Diskussion dieser beiden Begriffe, Umsetzung und Übersetzung, im Vergleich und als Ergänzung zur Spiegelmetapher könnte durchaus für ein tieferes Verständnis der Spezifik der menschlichen Erkenntnis hilfreich sein

5 Hüllinghorst, Auf den Standpunkt kommt es an. Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie, S 56

6 Ebenda, S 59

7 Hüllinghorst, Auf den Standpunkt kommt es an. Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie, S 55

8 Ebenda, S 58

9 Ebenda, S 63

10 Hüllinghorst, Auf den Standpunkt kommt es an. Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie, S 59

11 Übrigens könnte diese – von mir nicht geteilte – Sichtweise sich auf z.B. auf eine Stelle in Lenins „philosophischem Nachlass“ berufen. Wir finden folgende Notiz: „dies die Wissensgebiete aus denen sich Erkenntnistheorie und Dialektik aufbauen (Hervorhebung von mir) sollten“. In der Aufzählung finden wir unter anderem die „geistige Entwicklung des Kindes“, die „geistige Entwicklung der Tiere“, die „Sprache“, dazu noch die „Psychologie“ und die „Physiologie der Sinnesorgane“. ( Lenin, Konspekt zu Lasalles Buch „Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos“, S.335)

12 Hüllinghorst, Auf den Standpunkt kommt es an. Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie, S 56

Literatur

Egger, Andreas 2012. „Die fünf Sinne als Arbeit der Weltgeschichte. Eckpunkte einer materialistischen Erkenntnistheorie“. Aufhebung #1/2012, 53–71

Engels, Friedrich. „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, in: Werke Bd.21

Hüllinghorst, Andreas 2012. Auf den Standpunkt kommt es an. Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie“. Aufhebung #2/2012, 52-69

Lenin, W.I. „Konspekt zu Lasalles Buch ‚Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos’“, in: Werke Bd. 38

Marx, Karl. „Das Kapital. Nachwort zur zweiten Auflage“, in: Werke Bd.23