
Andreas Hüllinghorst, Berlin
Auf den Standpunkt kommt es an
Eine Interpretation der Grundfrage der Philosophie
Eine dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie aus dem Begriffsfeld der Arbeit zu entwickeln, wird wahrscheinlich von der Mehrzahl marxistischer Philosophen befürwortet. Wie man das macht, ist aber in der Entwicklung des Dialektischen Materialismus problematisch. So gibt es immer wieder Bemühungen, eine Erkenntnistheorie unmittelbar aus der dialektisch-materialistischen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie heraus zu entwickeln. So verstehe ich z. B. Andreas Eggers Beitrag in „Aufhebung #1“.1 Der Anstoß für ein solches Vorgehen liegt in Friedrich Engels’ Darstellung der Grundfrage der Philosophie: Engels bestimmt in ihr knapp im Rahmen der allgemeinen Bestimmung der Identität von Denken und Sein das Erkennen und argumentiert: Experiment und Industrie seien die „schlagendste Widerlegung“ (MEW 21/276) gegen die Unerkennbarkeit des Seins und damit gegen eine absolute Nichtidentität von Denken und Sein. Bei genauem Nachdenken seiner Argumentation kommt es aus meiner Sicht aber zu Problemen, die sicherlich gelöst werden können (und auch gelöst werden müssen), die aber ebenso deutlich machen, dass eine marxistische Erkenntnistheorie nicht unmittelbar in der Beantwortung der Grundfrage entwickelt wird, obwohl sie mittelbar dort ihren Ursprung hat.
Das dialektisch-materialistische Denken ist systematisches Denken. Es ist ein solches, weil es nach der dialektisch-materialistischen Methode denkt. Diese Denkungsart „baut“, indem sie aus der Umkehrung der Hegelschen Philosophie, genauer aus der absoluten Idee, heraus sich selbst denkt, ein System. Die dialektisch-materialistische Methode ist kein fertiger Apparat2, mit dem man einen beliebiges Seinsverhältnis denken und damit erkennen kann – er ist keine Sammlung von Denkgesetzen. Der Grund dafür ist, dass sich mit dem „Bauen“ des dialektisch-materialistischen Systems auch die Methode entwickelt. Indem der Gegenstand der Philosophie, der Gesamtzusammenhang, im dialektisch-materialistischen System immer komplexer gedacht wird – vom einfachen Begriff „Sein“ bis zur gesellschaftlichen Gegenwart –, wird auch die Denkmethode komplexer.
Eine Erkenntnistheorie hat als philosophische Disziplin daher einen spezifischen Ort im philosophischen System des Dialektischen Materialismus: Für ihre Entwicklung bedarf es wesentlich, aber nicht allein, des philosophischen Begriffs der Arbeit. Der Arbeitsbegriff ist wiederum – obwohl Arbeit die Grundvoraussetzung für alles menschliche Denken ist – kein dialektisch-materialistischer Grundbegriff und hat selbst seine Voraussetzungen in sämtlichen Kategorien und Begriffen der Naturdialektik.3 Sie sind zunächst sein einziger Inhalt.
All diese Denkbewegungen hat die dialektisch-materialistische Philosophie in der Erörterung der Grundfrage noch vor sich, denn hier wird das marxistische philosophische Denken durch den Widerspruch im Denken des Verhältnisses des Denkens zum Sein im Hegelschen System überhaupt erst geboren. Das, was es anfangs nur denken kann, ist völlig abstrakt; Denken und Sein sind seine einzigen, sich gegenseitig ihre leeren Inhalte gebenden Vorstellungen. Es ist also schon aus diesen, für Dialektiker eigentlich selbstverständlichen Überlegungen heraus nicht möglich, eine dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie aus der Grundfrage zu entwickeln.
Meine Absicht ist es, anhand Engels´ Überlegungen zur Grundfrage zu demonstrieren, was man in ihrem unmittelbaren Horizont denken kann. Darum möchte ich seine Überlegungen mitdenken und dort, wo er nicht ausreichend systematisch denkt, wo ich meine, tiefer fragen zu müssen, dort möchte ich einen Vorschlag machen, wie eine dialektisch-materialistische Antwort der Grundfrage der Philosophie systematisch gedacht werden kann. Ich halte einen solchen Versuch auch deshalb für notwendig, weil es mir wichtig erscheint, dass die marxistischen Philosophen in den Grundlagen dialektisch-materialistischen Denkens zu einer Übereinstimmung kommen sollten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mehrere Weisen, dialektisch- materialistisch zu denken, geben kann. Sie ist ein – wie Jindrich Zeleny festgestellt hat – „Rationalitätstyp“ und daher kann hier nur eine Ratio, eine Logik herrschen.
Das Verhältnis des Denkens zum Sein
„Die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein (…) hat also, nicht minder als alle Religion, ihre Wurzel in den bornierten und unwissenden Vorstellungen des Wildheitszustandes“ (MEW 21/275). Allgemein gesagt: Dieses Verhältnis philosophisch zu denken, hat seine Denkvoraussetzungen in der Religion und, mit dieser zusammen, im mythischen Denken der frühen Menschheit. Das Denken des Verhältnisses des Denkens zum Sein ist selbst eine Entwicklung in der Geschichte der Menschheit, das in der Philosophie mündet. Engels skizziert diese dreistufige Entwicklung äußerst knapp in den vorhergehenden Sätzen (siehe MEW 21/274f.).4 Es muss also in der Geschichte des mythischen oder gar vormythischen Wildheitszustandes eine Zeit gegeben haben, in dem der Mensch das Verhältnis des Denkens zum Sein erstmals gedacht hat. Dieser Fall ist zum Begreifen dieses Vorgangs als erstes vorzunehmen. Es interessiert dabei nicht, was im Wildheitszustand empirisch geschehen war. Der Philosoph kann sich hier nur fragen: Was passiert bei dieser Bestimmung logisch?
Dazu nehmen wir mit Engels einen besonderen logischen Standpunkt ein, den er mittels eines Genitivs ausdrückt. Er spricht nämlich in dieser Textpassage nicht mehr wie Eingangs von der Grundfrage der Philosophie als dem „Verhältnis von Denken und Sein“ (MEW 21/274). Durch diesen dativischen genitivus possessivus wird ein äußerliches Haben ausgedrückt, wie man etwa ein Haus haben kann. Engels‘ Rede ist nun aber von der Grundfrage der Philosophie als dem Verhältnis des Denkens zum Sein. Das Denken hat ein Verhältnis zum Sein, also auch hier wieder ein genitivus possessivus, aber das Haben ist nun innerlich. Das Denken kann sein Verhältnis zum Sein nicht als Objekt denken, sondern es ist ein Teil dieses Verhältnisses.5 Um Denken in diesem Verhältnis zu sein, um sein Verhältnis zum Sein zu denken, muss das Denken von sich wissen. Dieser Akt ist eine Reflexion seinerselbst; das Bewusstsein denkt in diesem Moment, dass es denkt. Ohne diese Selbstvergewisserung ist das Denken kein Denken.6
Indem es sich seiner vergewissert, denkt es, dass es ist. Es muss sich nicht nur seines Denkens bewusstwerden, es entwickelt in sich zugleich ebenso eine Vorstellung „Sein“. Es kann sich seines Denkens nicht ohne Sein zu denken vergewissern. Sein und Denken sind so Momente des Denkens. Es setzt, indem es sich selbst setzt, in sich sein Gegenteil. Zur Vorstellung „Denken“ gesellt sich unmittelbar die Vorstellung „Sein“ – und umgekehrt.
Das Verhältnis beider ist daher eines im Denken. Das Denken übergreift sich und sein Gegenteil, die Vorstellung „Sein“, im Denken selbst. Dadurch ist es erst Denken.7 Wäre es kein Denken, gäbe es auch keine Seinsvorstellung, denn nur durch sein Sich-selbst-Denken wird es sich des Seins des Denkens bewusst. Und dies gilt auch für das Verhältnis des Denkens zum Sein, denn nur indem das Denken sich selbst denkt, denkt es sich seiend und damit das Verhältnis beider zueinander. Dadurch ist also auch erst das wirkliche Verhältnis von Denken und Sein!8 Engels’ possessiver Genitiv „Verhältnis des Denkens“ ist darum genauer als genitivus producti zu lesen. Das Denken stellt sich selbst, das Sein und das Verhältnis beider zueinander im Denken her.9
Mit diesem Denkakt ändert sich die Seinsstruktur des Bewusstseins. Es ist nicht mehr einfaches, natürliches, tierisches, sondern in sich reflektiertes, menschliches Bewusstsein, also Selbstbewusstsein; das Bewusstsein hat ein Bewusstsein seinerselbst. Das natürliche Bewusstsein verschwindet dadurch und verdoppelt sich in sich in ein Bewusstsein mit einem Bewusstsein und einem Selbstbewusstsein. Das Sein, die Natur, hat in sich ein neues Seiendes, eine neue Seinsform, eine neue Bewegungsform des Seins entwickelt.10
Das Verhältnis von Denken und Sein
„Die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein hat aber noch eine andre Seite: Wie verhalten sich unsere Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? (…) Diese Frage heißt in der philosophischen Sprache die Frage nach der Identität von Denken und Sein (…)“ (MEW 21/275).11 Philosophie gründet sich demnach in zwei Seiten ein und derselben Frage. Warum das so ist, schreibt Engels nicht. Zumindest gibt er Hinweise, die das Verhältnis beider Seiten deutlich machen.
„Seite“ erhält durch Hegel eine dialektische Bedeutung und drückt ein Verhältnis in ein und demselben Etwas (mag es ein Gegenstand, ein Verhältnis oder ein Begriff sein) aus, in dem mindestens zwei Seiten zueinanderstehen. Alle Seiten verhalten sich auf bestimmte Weisen zueinander und bilden das in sich identische Seinsverhältnis eines identischen Etwas. Für die Grundfrage gilt: Die erste Seite ist das Verhältnis des Denkens zum Sein; dieses Verhältnis steht nun in einem Verhältnis zu einer anderen Seite der Grundfrage der Philosophie.
Dieses Verhältnis wird durch „andere“ ausgedrückt. Mit dem Adjektiv präzisiert Engels das logische Verhältnis beider Seiten zueinander. Ich setze es mit Hegels Darstellung der Dialektik von Etwas und Anderem in der „Wissenschaft der Logik“ formal gleich. Das Verhältnis des Denkens zum Sein existiert, es ist da. Es ist ein neues Seiendes entstanden, eine neue Art von bewusstem Sein, nämlich Selbstbewusstsein. Insofern ist es bestimmtes Seiendes, Da- seiendes, es ist – mit Hegels Wort – Etwas. Etwas hat andere Etwase außer sich, sonst wäre es kein Etwas. In unserem Fall ist es genau ein anderes Etwas: der Gedanke des Verhältnisses von Denken und Sein im Denken. Dieses andere Etwas ist auch ein Etwas. Beide sind Etwase und beide sind dem jeweils anderen das Andere. Insofern sind alle Etwase Andere. „Es ist gleichgültig, welches zuerst und bloß darum Etwas genannt wird (…). Beide sind auf gleiche Weise Andere“ (HW 5/125). Das Verhältnis beider scheint gleichgültig zu sein, ein äußerliches Verhältnis, das zum Beispiel von einem Dritten des Vergleichs Willen so bestimmt ist. Es scheint, dass „es nicht für sich so sei“ (HW 5/126). Dieser Schein hebt sich auf, wenn wir das zunächst gleichgültige Verhältnis von Etwas und Anderem logisch und damit nicht auf einen Einzelfall, sondern überhaupt nehmen.12 Unser Ausgangspunkt: Beide Daseiende sind sowohl Etwase als auch Andere und daher sind beide dasselbe; „es ist noch kein Unterschied derselben vorhanden“ (ebd.). Das Verhältnis ist nachwievor ein äußeres. Das Andere ist aber als Anderes gesetzt. Als dem Etwas Äußeres ist dem Anderen diese Setzung darum sein Inneres. Denn das Andere ist für sich in Beziehung auf ein Etwas und für es ist das Etwas außerhalb seinerselbst. Das Andere ist daher „isoliert“ zu nehmen, „abstrakt als das Andere“ (ebd.). Das Andere ist in diesem Moment das Andere an sich selbst und nicht das Andere von Etwas. Das Andere hat also sein Verhältnis zu seinem Etwas als Identität seinerselbst verinnerlicht. Es ist die Negation des Etwas, ist das, was es gegen sein Etwas ist. Das Andere ist demnach das Etwas, das nur bei sich sein kann, indem es außerhalb des (anderen) Etwas ist. Es ist das „Außer-sich-Seiende“ (HW 5/127) des Etwas; das, was das Etwas (um genau dieses Etwas zu sein) nicht ohne sein Anderes sein kann bzw. das, was das Andere nur durch sein Etwas sein kann. – Hegel greift als Beispiel Geist und physische Natur auf: Die Natur ist das Andere des Geistes, ist Raum, Zeit, Materie etc., alles das, was der Geist in sich selbst nicht sein kann. – Für sich ist dem Anderen das Etwas sein Anderes, weshalb das Andere (als Etwas) sein Anderes (das erste Etwas) setzt. Inhaltlich: Was das Etwas außer sich als Anderes setzt, ist dem Anderen spiegelverkehrt herum die Negation des vom Etwas Gesetzten; dieses Positiv-Negative setzt das Andere nun als Positives in das Andere des Anderen. An und für sich hat nun das Andere des Anderen, das (erste) Etwas, sich selbst, seine Setzung des Anderen, die Negation dieser Setzung im Anderen und das, was das Andere als Etwas ihm reflektiert in sich reflektiert. Es setzt also nicht nur sein Anderes; sein Anderes spiegelt ihm durch dessen Dasein (des Anderen) sein Dasein (des Etwas) in der Weise des Anderen wider. Nur dadurch ist das Etwas, was es ist. Es hat das vom Anderen reflektierte Verhältnis in sich reflektiert und ist dadurch diese Bewegung. Sein Anderes ist die Reflexion des Verhältnisses zum Etwas, dieses reflektiert sein Anderes in das Etwas zurück, sodass das Etwas die Reflexion der Reflexion des Etwas in seinem Anderen ist. Das Etwas ist „das Andere seiner selbst“ (ebd.). Es ist ungleich mit sich, indem es sich in sein Anderes setzt und so negiert wird; es ist zugleich mit sich gleich, denn das Andere ist es selbst als Anderes. Das Etwas geht im Anderen nur mit sich zusammen. Diese übergreifende Bewegung ist die Seinsform des Etwas. Sie ist die in sich reflektierte Form. Ein Etwas, „gesetzt als in sich Reflektiertes mit Aufheben des Andersseins, (als; A. H.) mit sich identisches Etwas, von dem hiermit das Anderssein, das zugleich Moment desselben (Etwas; A. H.) ist, ein Unterschiedenes, ihm nicht als Etwas selbst zukommendes ist“ (ebd.).
Kann diese logische Bewegungsform an der Grundfrage und damit am Selbstbewusstsein festgestellt werden? Hier ein Versuch: Das Selbstbewusstsein besteht ausschließlich aus der Bestimmung des Verhältnisses des Denkens zum Sein. Insofern ist das Selbstbewusstsein nichts als diese Bestimmung des besagten Verhältnisses in der Form des Begriffs. Es ist dieser Begriff – und darum ein Etwas. Mit diesem Begriff sind unmittelbar die in einem Begriff zusammenfallenden Vorstellungen von Denken und Sein entstanden. Der Widerspruch des Begriffs besteht darin, dass er, a) indem innerlich er beide im Verhältnis und also in eine Einheit bringt, beide auseinandersetzt. Diesen Widerspruch hält er nicht aus und setzt sich b) äußerlich unmittelbar als sein Anderes. Der Begriff ist sich selbst sein (Denk-) Gegenstand, sein Anderes.13 Das Andere spiegelt a) den inneren Widerspruch des Auseinandersetzenden-zur-Einheit-Bringen als Vereinheitlichen des Auseinandergesetzten. Deshalb erscheint das Verhältnis des Denkens zum Sein als das Verhältnis der Identität von Denken und Sein.14 Diese Identität ist das Sein-für-Anderes des Verhältnisses des Denkens zum Sein.) Das Andere hält diesem Widerspruch ebenso nicht stand und entäußert sich a) inhaltlich als das Identisch-Setzen durch Auseinandersetzen und dieses Auseinandersetzen durch Identisch-Setzen b) äußerlich in die andere Seite des Begriffs des Selbstbewusstseins zurück.15 Das Selbstbewusstsein ist daher diese übergreifende Bewegung der einen Seite über die andere seines Begriffs in sich zurück. Als dieser Dreischritt ist der Begriff und damit das Selbstbewusstsein vollständig.16
Widmen wir uns nun ausschließlich der anderen Seite des Selbstbewusstseins, dem Verhältnis von Denken und Sein: Wie diese Seite der Grundfrage dialektisch-materialistisch beantwortet wird, lässt Engels wie schon bei der ersten Seite offen. Er gibt mit seiner Darstellung anhand Hegels System ein Beispiel für absolute Identität von Denken und Sein17: „(…) denn das, was wir in der wirklichen Welt erkennen, ist eben ihr gedankenmäßiger Inhalt, dasjenige, was die Welt zu einer stufenweisen Verwirklichung der absoluten Idee macht, welche absolute Idee von Ewigkeit her, unabhängig von der Welt und vor der Welt, irgendwo existiert hat; daß aber das Denken einen Inhalt erkennen kann, der schon von vornherein Gedankeninhalt ist, leuchtet ohne weiteres ein“ (MEW 21/275). Engels argumentiert hier mit beiden Seiten der Grundfrage: Die Welt ist die stufenweise Verwirklichung der absoluten Idee, was heißt, dass die absolute Idee sich selbst als Welt setzt (Verhältnis des Denkens zum Sein). Deshalb kann der subjektive (menschliche) Geist als Teil der Welt (und damit der absoluten Idee) die Welt auch eins zu eins erkennen (Identität von Denken und Sein).
Für den Fall der absoluten Nichtidentität nennt Engels Hume und Kant – leider ohne eine den Anforderungen der Grundfrage entsprechende Ausführung. Engels könnte nach meinem Verständnis von Kants Transzendentalphilosophie folgendermaßen argumentieren: Weil das Erkennen nach Kant ein subjektives Vermögen ist, ist das Erkenntnissubjekt von der Wirklichkeit scharf getrennt (Verhältnis des Denkens zum Sein) und kann die Welt nur erkennen, wie sie für das Subjekt erscheint, nicht wie sie an sich ist (Verhältnis von Denken und Sein). Eine solche Verkehrung des Verhältnisses innerhalb des Selbstbewusstseins ist nur durch ontologische Voraussetzungen möglich. Kants Behauptung der Umkehrung des Verhältnisses innerhalb des Selbstbewusstseins – bevor man an das Erkennen des Absoluten gehe, müsse zunächst das Erkennen selbst erkannt werden – ist nur Schein, sodass er die eigentliche Gestalt des Selbstbewusstseins unbewusst realisiert. Schon in der „Einleitung“ zur „Phänomenologie des Geistes“ legt Hegel diesen elementaren Schwachpunkt der kantischen Transzendentalphilosophie auf: „In der Tat setzt sie (die Besorgnis, d. i. Kants Transzendentalphilosophie; A. H.) etwas, und zwar manches, als Wahrheit voraus und stützt darauf ihre Bedenklichkeiten und Konsequenzen, was selbst vorher zu prüfen ist, ob es Wahrheit sei“ (HW 3/69).
Der dialektische Materialist hingegen denkt die Identität von Denken und Sein relativ: Das Bewusstsein ist mit dem Sein identisch und nichtidentisch zugleich18 bzw., widerspiegelungstheoretisch ausgedrückt: Im Spiegelbild (Bewusstsein) ist der Erkenntnisgegenstand (Sein) selbst enthalten. Insofern ist das Spiegelbild der Erkenntnisgegenstand und mit ihm identisch. Zugleich ist das Spiegelbild das Bild des Spiegels, und daher abhängig von der Reinheit des Spiegels, es ist zweidimensional, links-rechts-verkehrt, enthält dessen Perspektive auf den Erkenntnisgegenstand etc. Das Spiegelbild ist daher mit dem Erkenntnisgegenstand nicht identisch.
Statt einer dialektisch-materialistischen Antwort zum Verhältnis von Denken und Sein widmet sich Engels der Widerlegung des Kantischen Begriffs „Ding an sich“: „Die schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie“ (MEW 21/276). Im Rahmen des dialektisch-materialistischen Systems ist seine Feststellung sicherlich nicht falsch, aber sie bringt ein Argument, dass nicht in der Beantwortung der Grundfrage der Philosophie seinen systematischen Ort hat, weil die Begriffe „Praxis“, „Experiment“ sowie „Industrie“ und kurz darauf auch „Richtigkeit“ noch nicht entwickelt sein können. Im Kontext der Grundfrage wäre mit dem Blick auf Kants „Ding an sich“ eine Argumentation aus ihrer ersten Seite heraus zu erwarten, denn das Verhältnis des Denkens zum Sein ist das in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Hegels absoluter Idee und dadurch in vermittelter Auseindersetzung mit Kants Transzendentalanalytik an diesem Ort im philosophischen System einzig Gewisse. Die „schlagendste Widerlegung“ der Kantischen Auffassung vom „Ding an sich“ wird aufgrund der dialektisch-materialistischen Bestimmung des Verhältnisses des Denkens zum Sein aus einer systematisch späteren Erkenntnistheorie geführt – dann auch mit wissenschaftlich geklärten dialektischen Begriffen.
Das Gründen in der philosophischen Bewegung
Der Gründungsvorgang der Philosophie und damit des Selbstbewusstseins wurde notwendigerweise abstrakt entwickelt, weil es eben ein einfacher Vorgang ist, in dem es nur die Vorstellungen „Denken“ und „Sein“ gibt, die in einem Begriff in ein Verhältnis kommen. Dennoch wurde diese Gründung selbst noch abstrakt dargestellt. Abstrakt, da der logische Vorgang logisch nachgezeichnet wurde, der entstanden sein muss, als erstmals das Verhältnis zwischen Denken und Sein bestimmt worden ist. Diese Situation ist historisch einmalig. Danach ist sie generell eine andere, weil das Selbstbewusstsein sich nicht immer wieder absolut neu setzt, sondern sich an der vorhergehenden Art, das Verhältnis des Denkens zum Sein im Verhältnis zum Verhältnis von Denken und Sein zu denken, entwickelt. Entsprechend ist die Gründungslogik einer Philosophie, Denken und Sein zu denken, auch immer eine andere. Je komplexer die vorhergehende Antwort ist, desto komplexer die nachfolgende. Der geschichtliche Verlauf der Entwicklung des Gründungsvorgangs aus dem allerfrühesten Denken des Menschen über das mythische und das religiöse zum philosophischen Denken der Gegenwart19 ist in der hier vorliegenden Darstellung nicht berücksichtigt worden.20
Eine Interpretation des Engelsschen Textes, wonach es sich um eine Setzung von Axiomen handele, mit denen man weiterdenken könne – etwa „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ oder „Es geht in der Grundfrage der Philosophie lediglich um eine Klassifizierung in materialistische und idealistische Philosophie und um Erkennen oder Nichterkennen des Seins“ –, trifft nicht das Wesen der Grundfrage. Sie gehört weder zur Ontologie noch zur Erkenntnistheorie, sondern gründet vielmehr beide Bestandteile des dialektisch-materialistischen Systems. Sie ist deshalb eine Frage, da sich in ihr die Philosophie immer aufs Neue durch dieses immer andere Fragen gründet. Das Fragen ist dabei Ausdruck des Übergangs vom aufgedeckten grundlegenden Widerspruch im Denken der Grundfrage der vorhergehenden Philosophie zur Entwicklung einer grundlegend neuen Philosophie.21 Das Fragen hat eine besondere Struktur: Man muss es als von dem Widerspruch der vorhergehenden Philosophie motiviert und zugleich von den fragenden und den Widerspruch aufdeckenden Kritikern begreifen. Je komplexer die vorhergehende Antwort ist, desto komplexer wird das Fragen.22
Darum ist die Bewegung des Selbstbewusstseins nicht allein die in den vorhergehenden Kapiteln angedachte Bewegung. Es ist also für materialistische Dialektiker notwendig, einen anderen, weniger abstrakten, theoretischen Standpunkt einzunehmen: Die Bewegung ist innerlich zu denken und zugleich auch äußerlich. Ich will damit sagen, dass das Selbstbewusstsein eine innere historische Bewegung ist, die qualitativ über sich hinausgeht. Bildlich en detail gesehen, ist diese Bewegung ein in sich reflektierender Kreis innerhalb eines (Haupt-) Kreises aus sich heraus (in den nächsten zu bildenden [Haupt-] Kreis). Das Bild en general ist nicht einfach eine Spirale, sondern eine Spirale, die an einem bestimmten Punkt selbst noch einmal einen kleinen Kreis macht, der vom Ende her die gesamte vorausgegangene Spiralbewegung reflektiert und den Anfang des Übergangs aus dem einen Kreis der Spirale in einen anderen, neu zu bildenden Spiralkreis macht. Von diesem nun eingenommenen logischen Standpunkt aus kann gesagt werden: Das ist die wesenseigene Bewegungsform der Seinsform Selbstbewusstsein und damit der Philosophie.
Die Antwort auf die Grundfrage ist daher nicht Engels´ philosophiegeschichtliche und erkenntnistheoretische Darstellung der Grundfrage der Philosophie, denn die notwendig erforderliche logische und damit einzig wissenschaftliche Ausarbeitung fehlt bis auf marginale Hinweise komplett. Was zu leisten ist, um das dialektisch- materialistische Verhältnis des Denkens zum Sein im Verhältnis zur Identität von Denken und Sein zu denken,23 ist a) den logischen Widerspruch dieses Denkens in der vorhergehenden, also Hegelschen Philosophie aufzudecken, b) ihn als Anfang des Übergangs in das zu gründende dialektisch-materialistische System ins eigene Denken aufzuheben und c) den Widerspruch durch kritisches Umkehren in die neue Art, das Grundverhältnis zu denken, aufzuheben,24 was in diesem speziellen Fall des Übergangs eine Verdopplung des Verhältnisses (des Denkens zum Sein und dem der Identität von Denken und Sein) bedeutet.25
Dies alles leistet das Widerspiegelungstheorem, wie es, mittels Hinweisen von Marx und Lenin, von Hans Heinz Holz entwickelt worden ist.26 Es erfüllt mehrere Funktionen: Es ist ein Übergangsdenken, das die eben schon genannte Umkehrung der Hegelschen Bestimmung, die Gründung und Entwicklung der dialektisch-materialistischen Denkmethode und des dialektisch-materialistischen philosophischen Systems zugleich realisiert. Es entwickelt die wissenschaftlichen Mittel, den Übergang zu denken. Das Widerspiegelungstheorem ist daher zumindest ein Teil der dialektisch-materialistischen Übergangswissenschaft.
Der praktisch-theoretische Standpunkt der Übergangswissenschaft
Ich schreibe „Teil der Übergangswissenschaft“ und nicht „die Übergangswissenschaft insgesamt“, weil ich mir unsicher bin, ob Letzteres so stimmt. Mir scheint, Engels hat bei der Grundfrage noch mehr im Blick als das bisher Angedachte.
Schon bei der Erklärung der Identität von Denken und Sein nimmt er ein Beispiel aus der erfahrungswissenschaftlichen Praxis. Und als letzten Hinweis in seiner Darstellung der Grundfrage der Philosophie bringt er Naturwissenschaft und Arbeit ins Spiel: „Die Philosophen wurden aber in dieser langen Periode von Descartes bis Hegel und von Hobbes bis Feuerbach keineswegs, wie sie glaubten, allein durch die Kraft des reinen Gedankens vorangetrieben. Im Gegenteil. Was sie in Wahrheit vorantrieb, das war der gewaltige und immer schneller voranstürmende Fortschritt der Naturwissenschaft und der Industrie“ (MEW 21/277). Engels spricht hier für die Epoche der „speziell neueren Philosophie“ (MEW 21/274), der Philosophie des aufstrebenden Bürgertums. Für die ganze bisherige Menschheitsgeschichte genommen, kann für Naturwissenschaft und Industrie auch von Erfahrung (praktisches Bewusstsein) und Arbeit gesprochen werden. Durch diese beiden gründet sich Philosophie/Selbstbewusstsein bzw. wird sie/es gegründet. Warum beide für die Entwicklung der Philosophie maßgeblich sind, schreibt Engels nicht. Mit dem Ausdruck „in Wahrheit“, eine philosophische Kategorie,27 hebt er diesen materiellen Vorgang jedoch auch ins Selbstbewusstsein. Daraus kann geschlossen werden, dass nach Engels die Philosophie als die Struktur des Selbstbewusstseins ihre materiellen Grundlagen mitdenken muss. Es stellt sich die Frage: Ist die Grundfrage der Philosophie in der bisherigen Ausführung vollständig beantwortet worden?
Verneinen wir einen Anteil des Bewusstseins und der Arbeit an der Gründung des Dialektischen Materialismus, ist das Widerspiegelungstheorem die komplette, rein philosophische Übergangswissenschaft von Hegels absoluter Idee zur philosophischen Grundlage des Marxismus. Holz betont in „Dialektik und Widerspiegelung“: „Meine These lautet, daß die logische Struktur des in der materialistischen Antwort auf die Grundfrage statuierten Verhältnisses von Denken und Sein exakt der logischen Struktur des Verhältnisses von Spiegel und Bespiegeltem entspricht.“28 Dann wird das Verhältnis des Selbstbewusstseins zu Bewusstsein und Arbeit ausgeblendet. Das muss kein Fehler sein. Vom Widerspiegelungstheorem wird aber die Darstellung des weiteren Gangs des dialektisch-materialistischen Systems erwartet. Aus der oben angedachten Struktur des dialektisch-materialistischen Selbstbewusstseins heraus müssten sich die systematisch nächsten Kategorien ergeben. Soweit ich das Widerspiegelungstheorem begriffen habe, kann es das nicht.29 Es entwickelt in sich keinen widersprüchlichen Inhalt der eine über es hinausgehende neue in sich widersprüchliche Form bildet. Bejahen wir einen Anteil des Bewusstseins und der Arbeit an der Gründung des Dialektischen Materialismus und verneinen einen Anteil des Widerspiegelungstheorems daran, sind wir hoffnungslos verloren. Eine Erklärung – mehr ist es dann auch nicht, was dabei herauskommt – des Dialektischen Materialismus aus der Erfahrung(swissenschaft) und der gesellschaftlichen Praxis ist bestenfalls historisch interessant, taugt aber nicht für ein begreifendes, philosophisches Modell des Gesamtzusammenhangs.
Bejahen wir einen Anteil des Bewusstseins und der Arbeit an der Gründung des Dialektischen Materialismus und auch des Widerspiegelungstheorems, kommt Letzteres in die Bredouille. Denn es müsste deutlich machen, dass das Selbstbewusstsein sowohl eine Reflexion des vorhergehenden Selbstbewusstseins als auch zugleich der Erfahrung und der Arbeit ist. Das Theorem müsste begreifbar machen, warum ein Spiegelbild (das Selbstbewusstsein als das Verhältnis zweier Verhältnisse) aus drei unterschiedlichen Zusammenhängen (Hegelsches Selbstbewusstsein/absolute Idee, Bewusstsein und Arbeit) entsteht.
Meine Überlegungen gehen in die Richtung, das Widerspiegelungstheorem als Moment des unmittelbaren Umkehrungs-/Gründungsvorgangs des Dialektischen Materialismus beizubehalten. Es aber zugleich theoretisch mit Bewusstsein und Arbeit zu koppeln. Dafür ist erneut der theoretische Standpunkt, der für den Übergang vom idealistisch-dialektischen zum materialistisch-dialektischen System zu überdenken.
Die Umkehrung der absoluten Idee erfolgt historisch und logisch nicht direkt aus dem Kapitel „Absolute Idee“ in Hegels „Wissenschaft der Logik“, denn sein idealistisch-dialektisches System offenbart keinen inneren Widerspruch. Der Widerspruch ergibt sich zwischen ihm und der damals herrschenden gesellschaftlichen Praxis;30 es ist ein wirklicher Widerspruch zwischen Praxis und (Hegelscher) Theorie.31 Bevor unsere Klassiker das logische Zentrum der Umkehrung bei Hegel fixierten, legten sie diesen realen Widerspruch offen. Der junge Marx hat dies in seiner 11. These über Feuerbach verallgemeinert. Alles bisherige Philosophieren war ein Interpretieren der Welt, das dialektisch-materialistische ist ein die Welt veränderndes Philosophieren. Philosophie, als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs, drückt als Teil der gegenwärtigen gesellschaftlichen Praxis dieselbe so aus, wie diese zukünftig sein soll. Philosophie gibt damit eine Generallinie für die Entwicklung der Praxis. Der Standpunkt zur dialektisch-materialistischen Beantwortung der Grundfrage muss demnach praktisch-theoretisch sein.
Früher als die „Feuerbach-Thesen“ verfasste Marx seine „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ in der er den Grundzug zukünftigen Philosophierens erstmals verdeutlicht:
„Seine Zukunft (die des deutschen Volkes; A. H.) kann sich weder auf die unmittelbare Verneinung seiner reellen noch auf die unmittelbare Vollziehung seiner ideellen Staats- und Rechtszustände beschränken, denn die unmittelbare Verneinung seiner reellen Zustände besitzt es (das deutsche Volk; A. H.) in seinen ideellen Zuständen, und die unmittelbare Vollziehung seiner ideellen Zustände hat es in der Anschauung der Nachbarvölker (des kapitalistischen England, Frankreich und der Niederlande, A. H.) beinahe schon wieder überlebt. Mit Recht fordert daher die praktische politische Partei in Deutschland die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehnbleiben bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht noch vollziehen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes – einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt. Die Beschränktheit ihres Gesichtskreises zählt die Philosophie nicht ebenfalls in den Bering der deutschen Wirklichkeit oder wähnt sie gar unter der deutschen Praxis und den ihr dienenden Theorien. Ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur in seinem Hirnschädel gewuchert hat. Mit einem Worte: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen. Dasselbe Unrecht, nur mit umgekehrten Faktoren, beging die theoretische, von der Philosophie her datierende politische Partei. Sie erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt, sie bedachte nicht, daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist. Kritisch gegen ihren Widerpart verhielt sie sich unkritisch zu sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen Resultaten entweder stehenblieb oder anderweitig hergeholte Forderungen und Resultate für unmittelbare Forderungen und Resultate der Philosophie ausgab, obgleich dieselben – ihre Berechtigung vorausgesetzt – ihre Gegenteil nur durch die Negation der seitherigen Philosophie, der Philosophie als Philosophie, zu erhalten sind. Eine näher eingehende Schilderung dieser Partei behalten wir uns vor. Ihr Grundmangel läßt sich dahin reduzieren: Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben“ (MEW 1/383ff.).
Es ist also für die Grundfrage der Philosophie, für die Übergangswissenschaft, ein Standpunkt einzunehmen, der die beabsichtigte Aufhebung der theoretischen und praktischen Seite theoretisch zusammenbringt: „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“ (MEW 1/391).
Praktisch ist dies der Standpunkt der kommunistischen Partei.32 Theoretisch ist dies der Standpunkt des wirklichen Widerspruchs zwischen der damaligen deutschen Gegenwart und dem Hegelschen System, sprich: die materialistische Kritik an Hegels Rechtsphilosophie,33 speziell ihrer Schlussfigur des Weltgeistes in der Form des Staates, in der Geist und Welt alle Unterschiedlichkeit zur Einheit aufgehoben haben, „so daß die wahrhafte Versöhnung objektiv geworden, welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet“ (HW 7/512). Von Marx´ Kritik an Hegels Identität von Vernunft und Wirklichkeit im Staat aus wird die Grundfrage der Philosophie beantwortet. Nachdem der wirkliche Widerspruch offengelegt worden ist und der praktisch- theoretische Standpunkt zum Übergang der Philosophie eingenommen worden ist, wird die theoretische Seite abstrakt ausgearbeitet, indem der Ort im System Hegels aufgesucht wird, in dem der Widerspruch von Sein und Denken rein zum Ausdruck kommt: die absolute Idee.34 Ihre Umkehrung vollzieht sich als Widerspiegelungstheorem. Dadurch wird die Grundstruktur dialektisch-materialistischen Denkens entwickelt, die abstrakte Bestimmung des Verhältnisses des Verhältnisses des Denkens zum Sein zur Identität von Denken und Sein. Damit werden wir auf die praktische Seite unseres theoretischen Standpunkts des Übergangs zur neuen Philosophie geworfen, die unmittelbare philosophische Wirklichkeit am Anfang des Hegelschen Systems: die „Phänomenologie des Geistes“. Die Phänomenologie hat den offenen Gegensatz von Erkenntnissubjekt und -objekt zum Gegenstand. Sie ist Hegels Übergangswissenschaft, in der die Erkenntnistheorie der damaligen Zeit kritisch aufgearbeitet wird.35 Sie ist Hegels (bloß) theoretischer Standpunkt. Ihre Umkehrung mündet – so meine ich – in eine „Phänomenologie der gegenständlichen Tätigkeit“ – falls nicht von dialektisch-materialistischer Seite einsichtige Einwände kommen.
Damit wird die wirkliche Entstehung des Selbstbewusstseins zu einer Wissenschaft. Es muss sich jetzt nicht bemüht werden, die in diesem Beitrag anfänglich angestrengten Überlegungen der Selbsterschaffung des Selbstbewusstseins auf eine abenteuerliche Weise in einen praktischen und erfahrungswissenschaftlichen Horizont zu bringen. Mit der Umkehrung der Hegelschen Erkenntnisformen „Sinnliche Gewißheit“, „Wahrnehmung“, „Verstand“, „Selbstbewusstsein“ und „Vernunft“ in Tätigkeits- bzw. Praxisformen wird eine wissenschaftliche Antwort auf die Grundfrage der Philosophie gegeben werden.
Fußnoten
1 Egger 2012.
2 Wie ihn Kant in seiner „Transzendentalen Analytik“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ definiert hat.
3 Hans Heinz Holz erwähnt in seinem Artikel „Grundfrage der Philosophie“ in der „Europäischen Enzyklopädie“ die Kategorie Möglichkeit – womit zum Ausdruck kommt, dass die Begriffe der allereinfachsten Bewegungsformen des Seins im Arbeits- und damit im Erkenntnisbegriff als Momente derselben mitgedacht sind.
4 Gegenwärtige archäologische Forschung kann diesen Entwicklungsgang belegen.
5 Engels nimmt diese Position in diesem Aufsatz nicht ein. Er denkt selbstverständlich auch systematisch, vorrangig aber nimmt er eine philosophiegeschichtliche, eine betrachtende, objektive Position ein.
6 Das Denken des Denkens dürfen wir nicht als ein abstraktes Erfahrungsdenken missverstehen. Dann kämen wir in ein bloß empiristisches, und damit vormarxistisches materialistisches Philosophieren. Vor diesem Hintergrund bin ich mir nicht sicher, ob Andreas Egger (a.a.O.) diesem Fehler aufsitzt, wenn er schreibt: Gedanken, Theorien usw. sind ja immer Gedanken, Theorien über ein konkretes Objekt (…)“ (S. 63f.). Die Erinnerung an den Streit zwischen Locke und Leibniz kann hier helfen. Der Empirist Locke schreibt: „Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu.“ Und Leibniz ergänzt: „Nisi intellectus ipse“ (Nichts ist im Geiste, was nicht vorher in den Sinnen war – ausgenommen der Geist selbst). Das Denken des Denkens ist kein Objekt-Denken. Es ist eine andere Weise zu denken, eine, die keinen Erfahrungshintergrund hat.
7 Und nicht natürliches Bewusstsein
8 Inwieweit das wirkliche Verhältnis des Denkens zum Sein dem gedachten entspricht, ist ein anderes Problem.
9 Für Widerspiegelungstheoretiker: Dieser grundlegende Begriff scheint mir die Spiegeloberfläche zu sein. Indem das Denken „Denken“ und „Sein“ denkt, hat es sich eine Spiegeloberfläche geschaffen. Die innere Logik dieses Begriffs ist die Spiegelweise. Aus dieser Warte der Beantwortung der Grundfrage ergibt sich also ein Idealismus, wonach das Denken eine schöpferische Funktion einnimmt. Dieser reale Schein wird sich später auflösen; er hat aber seine Berechtigung und ist Teil der Beantwortung der Grundfrage. – Hier wird deutlich, dass der Dialektische Materialismus den Idealismus als Bestandteil in sich hat.
10 Dies geschieht in der Arbeit des Menschen. Diese wird aber erst Arbeit, wenn der Mensch auch denkt – und denken tut er nur, wenn er ein Selbstbewusstsein hat.
11 Ich halte Engels´ Passage „Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unsern Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit erzeugen?“ (ebd.) aus streng systematischen Gründen aus meinen Überlegungen heraus. Wir haben in der Beantwortung der Grundfrage noch keine Inhalte und Formen entwickelt, die es uns ermöglichen, Begriffe wie „Erkennen“, „Welt“ und „Wirklichkeit“ zu denken. Wir können hier – wie sich zeigen wird – neben dem Verhältnis des Denkens zum Sein allein Identität denken, und zwar auch nur eine Art von Identität, die von Denken und Sein. Wir befinden uns ausschließlich auf dem Terrain der Philosophie – wie Engels mit seinen Worten „in der philosophischen Sprache“ (ebd.) auch unterstreicht. So könnte die von mir ausgelassene Passage zum Erkennen als Verständlichmachen dieser Seite der Grundfrage gelesen werden, nicht aber als wissenschaftliche Entwicklung des Begriffs des Verhältnisses von Denken und Sein. Letzteres ist aber mein Anspruch.
12 Wir Philosophen haben ausschließlich das Ganze im Blick. Das Sein ist hier gedacht als die Qualitäten „Etwas“ und „Anderes“. Qualitativ anderes Sein hat sich noch nicht entwickelt.
13 Für Widerspiegelungstheoretiker: Der Übergang von der Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein zur Identität von Denken und Sein ist das Spiegelbild. Es ist das Bild des Dings und das Bild des Spiegels zugleich.
14 Andreas Egger sieht nur diese Seite des Verhältnisses im Selbstbewusstsein. Er schreibt in seinem Beitrag auf S. 65: „Auch wenn Philosophie einen höheren Verallgemeinerungsgrad hat als einzelwissenschaftliche Erkenntnis, ist sie doch von dieser nicht unabhängig.“ Den Verallgemeinerungsgrad, den Egger der Philosophie zuordnet, legt nahe, dass die Philosophie durch Abstraktion der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisse zu ihren Begriffen kommt. Das ist nicht der Fall. Die Philosophie schafft sich ihre Begriffe selbst, denn ihr Denkgegenstand ist der Gesamtzusammenhang. Das menschliche Denken ist zweiursprünglich; das theoretische und das Erfahrungsdenken haben eigene Ursprünge – innerhalb des Arbeitsverhältnisses.
15 Wer diese Logik des dialektisch-materialistischen Selbstbewusstsein nicht beherrscht, erliegt möglicherweise dem Schein des Primats des Anderen, der Identität von Denken und Sein, und versteht ihn als Primat der Erkenntnistheorie. Siehe Renate Wahsner 2009 und dazu meine Auseinandersetzung im Topos-Heft 36, besonders der Abschnitt „Zur Grundfrage“, S. 195ff. – Andreas Eggers Aufsatz in „Aufhebung #1“ ist in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Seine Überlegungen zu einer Grundlegung einer marxistischen Erkenntnistheorie gehen nicht auf das Verhältnis des Denkens zum Sein ein – ein Manko, wie ich meine.
16 Wir erfahren hier, wie sich in der Dialektik ein Begriff aus sich selbst heraus entwickelt. Zweitens erfahren wir, dass der Gründungsbegriff des Dialektischen Materialismus das Verhältnis zweier Verhältnisse ist. Die Gründung ist also weit davon entfernt, bloß eine stumpfe Setzung von Axiomen zu beiden Verhältnissen zu sein. Solche logische Anforderungen erfüllt bisher allein das Widerspiegelungstheorem.
17 Nicht anhand von Hegels Erkenntnistheorie, d.i. die „Phänomenologie des Geistes“ innerhalb der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“
18 Dies ist ein Beispiel für philosophisches Aufheben: Hegel reflektiert Kant noch unmittelbar negativ, der dialektische Materialist hingegen durch die Identitätsauffassung Hegels hindurch, sodass beide, Kant und Hegel, in der Beantwortung der Grundfrage durch den Materialisten enthalten sind.
19 Logischerweise – so hat es sich auch in den obigen Überlegungen dargestellt – ist am Anfang dieser Entwicklung das Verhältnis des Denkens zum Sein ein unmittelbares, eines, in dem Denken und Sein unmittelbar eins sind – ohne Bewusstsein eines Unterschieds beider Vorstellungen des Begriffs. Die denkende Bestimmung des Verhältnisses des Denkens zum Sein erzeugt einen Begriff, in der beide Vorstellungen Seiten desselben sind. Im Verlauf der Geschichte der Bestimmung dieses Verhältnisses kommt es zur Differenzierung. Dies ist dann mit der Trennung von Seele und Körper im mythischen Denken, wie Engels in seiner kurzen Geschichte der Entwicklung der Grundfrage anhebt, der Fall. Ich setze also eine Entwicklungsstufe vor die Denkphase, in der eine Differenzierung in Denken und Sein einsetzt. Engels hebt ja mit dem mythischen Denken an. Aber auch im vormythischen Denken des Menschen muss es logischerweise eine Bestimmung des Verhältnis des Denkens zum Sein gegeben haben. Dieses zeichnet sich durch das unmittelbare Zusammenfallen von Denken und Sein im Denken aus.
20 Die wesentliche Bewegungsform der Philosophie über mehr als zweieinhalb Jahrtausende hin müsste demnach die des Verhältnisses des Denkens zum Sein und der Identität von Denken und Sein sein.
21 Möglicherweise entspricht die logische Struktur des Fragens der Struktur des Übergangs nicht, und das Fragen ist als Begriff für den Übergang nicht geeignet. Gibt es marxistische Literatur, die sich dem Fragecharakter der Grundfrage bzw. der logischen Struktur des Fragens widmet? Die Klassiker und Hans Heinz Holz kommen in diesem Zusammenhang, mehr oder weniger bewusst, für den einen Fall des Übergangs von Hegel zu Marx auf die Spiegel-Metapher.
22 Weil mehr aufzuheben ist, um den programmatischen Titel dieser Zeitschrift zu betonen. – Daher kann ich der Aussage von Andreas Egger nicht folgen. Er schreibt a.a.O. auf S. 57: „Es kann keinen Zweifel darangeben, dass die erkenntnistheoretischen Positionen von Marx und Engels nur mehr wenig mit jenen schematischen, passiven Konzepten früherer Abbildtheorien gemeinsam hatten – außer der materialistischen Grundposition, dass die objektive Realität unabhängig vom subjektiven Bewusstsein ist.“ Die Antwort früherer materialistischer Philosophien stimmt nicht mit der des Dialektischen Materialismus überein, denn vormarxistisch wird man wohl sagen, dass die Realität unabhängig vom Bewusstsein existiert. Für den Marxisten ist aber das Bewusstsein auch Realität, genauer Materie, Sein. Das Sein unterscheidet sich in sich; es übergreift sich und sein Gegenteil, das Bewusstsein. Als ausnehmend besondere Seinsform übergreift das Bewusstsein in der Form des Selbstbewusstseins das Sein. Die marxistische Antwort auf die Grundfrage ist daher wesentlich komplexer als in vormarxistischen Philosophien.
23 Dazu genauer, wenn auch – wie leider im Nachhinein eingestanden werden muss – nicht präzise, nicht tief genug gedacht, das Kapitel „Die Umkehrung“ in meinem Artikel im letzten Topos-Heft; dort auch die zahlreiche Literatur von Holz zur Umkehrung.
24 „(…) das Hegelsche System nur einen nach Methode und Inhalt idealistisch auf den Kopf gestellter Materialismus (…)“ (MEW 21/277)
25 Die Verdopplung ergibt sich aus der Aufhebung des Hegelschen Idealismus als Bestandteil des Dialektischen Materialismus. Hegels Dialektik des Verhältnisses des Denkens zum Sein z. B. ist nicht irreal, sondern nur einseitig, nur die idealistische Seite des Verhältnisses begreifend und so verabsolutierend.
26 Dazu auch in meinem Topos-Beitrag das Kapitel „Von Hegel über Linkshegelianismus, Marx und Lenin zu Holz“.
27 Im Gegensatz zu „Richtigkeit“; diesen Begriff nimmt Engels für erfolgreiches Denken im Erfahrungsdenken, im Experimentieren (vgl. MEW 21/276). Dazu auch in Holz 2011 in seiner letzten Publikation vor seinem Tod.
28 Holz 1983, 67.
29 Das ist selbstverständlich diskussionswürdig; ich bin mir bei meiner Interpretation des Widerspiegelungstheorems nicht sicher.
30 Siehe den philosophiegeschichtlichen Ansatz in meinem Topos-Beitrag: „Von Hegel über Linkshegelianismus, Marx und Lenin zu Holz“.
31 Beim Übergang von Kant zu Hegel z. B. – wenn man die Zwischenschritte Fichte, Schiller, Hölderlin und Schelling beiseite lässt – war es ein immanenter Widerspruch in Kants Transzendentalphilosophie; die Einheit des Erfahrungsbegriff aus Sinnlichkeit und Verstand kommt in der „Transzendentalen Analytik“ nicht zustande. Wie ist die Identität zweier Gegensätze zu denken? Das ist die Leitfrage der klassischen deutschen Philosophie.
32 Lenin übernimmt diese Grundeinstellung in „Was tun?“. – Die Philosophie entsteht mit der Klassengesellschaft und sie geht mit deren Ende unter.
33 Das ist das Ende des Hegelschen Systems.
34 Das ist die Mitte des Hegelschen Systems.
35 Dazu in meinem „Topos“-Beitrag die Seiten 194–208.
Literatur
Egger, Andreas. 2012. „Die fünf Sinne als Arbeit der Weltgeschichte. Eckpunkte einer materialistischen Erkenntnistheorie“. Aufhebung #1/2012, 53–71
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1970. Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt/Main
Holz, Hans Heinz. Dialektik und Widerspiegelung. Köln 1983 Ders. 1990. „Grundfrage der Philosophie“. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie, Hamburg, Bd. 2
Ders. „Theorieform und Erscheinung“. Topos 36, 211–221
Hüllinghorst, Andreas. 2011. „Die logische Geburt des Dialektischen Materialismus. Wider den Kantianismus im Marxismus. Topos 36, 175–208
Wahsner, Renate. 2009. „Die Materie kann nicht gedichtet werden“. Zu den Bedingungen einer materialistischen Spekulation bzw. Dialektik und zur Unmöglichkeit einer monistischen Abbildtheorie. Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung, 138–157